„Eine Art Gewissen der Stadt“

■ Der Hamburger Arie Goral-Sternheim wird heute 85 Jahre alt

1953 lädt der Hamburger Senat einen jüdischen Überlebenden ein. Obwohl sich der 44jährige geschworen hatte, nie mehr in seine ehemalige Heimatstadt zurückzukehren, macht er sich auf den Weg. Im Hauptbahnhof trifft er auf eine Gruppe freudig Wartender. Doch die Begrüßung gilt nicht ihm, sondern einem ehemaligen Wehrmachtssoldaten. Vergeblich sucht er nach einem Vertreter des Senats. Der ratlose Mann zieht zunächst ziellos durch die Innenstadt. Versuche, einen Herrn im Rathaus zu erreichen scheitern, die Nacht verbringt er auf einer Parkbank. Schließlich erhält er Unterstützung in der Jüdischen Gemeinde.

Trotz dieses Empfangs ist Arie Goral, wie sich Walter Sternheim seit seiner Zeit in Israel nennt, bis heute in Hamburg geblieben. Arie heißt im Hebräischen Löwe und Goral Schicksal. 1909 im westfälischen Rheda geboren, wuchs Walter Lovis Sternheim in Hamburg auf, ging hier zur Schule und wurde maßgeblich vom linken Flügel der jüdischen Jugendbewegung geprägt. Früh begriff er sich als jüdischer Sozialist und stand den Assimilationsbestrebungen der Mehrheit der älteren Generation Hamburger Juden skeptisch gegenüber. Mit 15 Jahren entfloh er dem Elternhaus und ging nach Berlin, wo er in Kontakt mit Künstlern und Schriftstellern kam. Nach längerem Aufenthalt in dem bei Hameln gelegenen Kibbuz Cheruth (hebr.: Freiheit) kehrte er 1931 nach Hamburg zurück und begann eine Buchhändlerlehre im Kaufhaus Hermann Tietz, dem heutigen Alsterhaus. Unter dem Eindruck des Juden-Boykott-Tages am 1. April 1933 emigrierte er nach Frankreich, 1935 ging er nach Palästina. In Florenz studierte er Anfang der 50er Jahre Kunst. Nicht zuletzt über das Medium der Kunst kehrte er nach Deutschland zurück. Seitdem spielt er in Hamburg die Rolle des unbequemen Zeitgenossen, des Mahners und Querkopfes, ja, zuweilen die eines Rufers in der Wüste. Spielt? Er füllt diese Rolle in einer eruptiven, kompromißlosen, geradezu existenziellen Weise aus. Der ehemalige Kultursenator Wolfgang Tarnowski nannte ihn „eine Art Gewissen der Stadt“. Goral hat durch seine Präsenz, durch seine unablässige Bereitschaft, sich einzumischen, klargemacht, daß man der Vergangenheit nicht ausweichen kann und sich der Geschichte stellen muß. Er hat die Hamburger – gleich welcher politischer Couleur – konfrontiert mit dem, was sie nicht wissen wollten, wovor sie sich immer wieder zu drücken versuchen. Jean Améry erklärte einmal, im Grunde gehöre die gesamte deutsche Gesellschaft auf die Couch. Arie Goral war und ist kein Psychoanalytiker, er hat aber gewußt, wo es überhaupt noch Chancen gab, auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft Einfluß zu nehmen: Auf die Kinder, die deklassierten Jungen und Mädchen, die in den 50er Jahren in Nissenhütten hausten und um die sich niemand kümmern wollte. In ihnen fand sich Goral, der von sich behauptet, immer ein Unbegabter gewesen zu sein, wieder. Mit ihnen unternahm er Ausflüge in die Welt der Malerei, aber auch in die Welt der Politik. Er unternahm im künstlerischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen keine Analyse des Unbewußten, eher eine Auseinandersetzung mit Klischees, Rastern und Stereotypen, die den jungen Deutschen bereits wieder oder noch im Kopf herumspukten. Dieser Impuls wirkte weiter, vom Jungen Studio zur Galerie Uhu, von der Galerie Uhu zur Intergalerie. Die Erfolge gaben ihm neues Vertrauen, weckten Hoffnungen, daß sich hier doch etwas verändern lassen könne. In der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre glaubte er zeitweilig, Bundesgenossen gefunden zu haben. Doch auch hier blieben Enttäuschungen nicht aus, besonders als die von der Neuen Linken am Staat Israel geübte, sich antiimperialistisch gerierende Kritik nur allzu bekannte Bilder und Sujets evozierte. Im Antizionismus lauert der Antisemitismus „wie das Gewitter in der Wolke“. Wenn es eine Erfahrung gibt, die Goral wie eine Essenz aus seiner Biographie ziehen kann, dann ist es seine inständige Warnung davor, sich als Jude noch einmal auf eine bloße Identifikation als deutscher Staatsbürger einzulassen. Daß Juden 1933 glaubten, geschützt zu sein, wenn sie ihre Treue zum deutschen Staat bewiesen, stellt für ihn auch heute noch eine Falle dar. Und jene, die sich einst mit ihm emphatisch identifizierten, müssen sich heute von ihm, der immer noch daran festhält, jüdischer Sozialist zu sein, fragen lassen, was aus ihnen geworden ist.

Wolfgang Kraushaar

Heute liest Arie Goral aus „An der Grenzscheide: Kein Weg als Jude und Deutscher?“, Literaturhaus, 20 Uhr