Vorwärts zu festen Bürgerkomitees

■ Claus Leggewie: Für Bürger-TÜV und „political action committees“

Wer den üblichen Wahlkampf nicht mag, muß sich Alternativen ausdenken. Im Superwahljahr mühten sich ein paar Idealisten redlich, Bürgergeist zu entfachen und das Loch zwischen Reformstimmung und Parteienroutine zu überbrücken. Der „Wahlkampf von unten“ hielt sich in Grenzen. Einige Beispiele aus dem Zettelkasten des Wahlbeobachters: Der größte Feind des Wahlkämpfers ist der Nichtwähler. Auf diese Spezies des Homo apoliticus zielte die wohlmeinende Staatsbürgerkunde mehr oder weniger prominenter Leute, die besonders Jungwähler aufforderten, überhaupt ihr Kreuz zu machen. „Wählen gehen, aber richtig“ lauteten Appelle zum Beispiel der „Jugend gegen Rassismus in Europa“ gegen rechts. Die Rechten erledigten sich als Parlamentsparteien fürs erste selbst. Doch in die Fußstapfen der Rechtspopulisten traten die Postkommunisten. Gegen die aussichtsreichen Direktkandidaten der PDS brachten weder die Parteien noch couragierte Wählerinitiativen im Osten ein Abkommen zustande, um Gysis Haufen auf demokratische Weise vom Hohen Hause fernzuhalten.

Kirchen und Gewerkschaften wirkten lange als Filter zwischen Wähler und Stimmzettel. Der DGB stellte eine frappierende Nähe zu Rot-Grün fest, sparte aber Atomkraft und Tempolimit sicherheitshalber aus. Auf Kanzelworte kann der mündige Wähler mittlerweile gut verzichten. Zu Adenauers Zeiten mahnten die Bischöfe, korrekt – raten Sie wen! – zu wählen. 1994 hatten sie eine saftige Abrechnung mit der unsozialen Politik der christlich-liberalen Koalition in der Schublade – da blieb sie auch. Die Parteichristen pfiffen die politisch inkorrekten Kleriker zurück, und die ermäßigen ihre Kritik zu braven Allgemeinplätzen: Feigheit vor dem Freund.

Klaus Staecks „Aktion für Demokratie“, eine Wählerinitiative von Künstlern, Intellektuellen und Professoren für die SPD, zehrt von früher Schriftsteller-Opposition gegen Adenauer und atmet den Geist der Wahlkontore für Willy. Bei drei „Ideentreffs“ kam nicht viel heraus, zumal die meisten Angesprochenen bekundeten, warum sie die Rudi-SPD nicht (mehr) unterstützen wollten. Auch das „Bürgerforum Paulskirche“, das große Frankfurter Tradition für einen Neuaufguß der Apo in Anspruch nahm, gefiel sich in der Klage, was nicht mehr ist wie früher, statt zu sagen, wie jetzt das eine oder andere besser werden könnte.

Nach dem Vorbild der Honoratioren-Initiative für den „Bürgerpräsidenten“ Jens Reich, die im Mai 1994 einen Achtungserfolg erzielte, stützten personenbezogene Kampagnen zum Beispiel Wolfgang Thierse gegen Stefan Heym oder Antje Vollmer in der SPD- Hochburg Kassel. Solche Aktionen müßten sich zu political action committees professionalisieren. Doch die Angst vor amerikanischen Verhältnissen sitzt tief – um so eher ist man dann der europäischen Telekratie ausgesetzt.

Um Programme ging es lokalen und landesweiten Bürgereinmischungen, die Parteipolitiker mit ihren Forderungen konfrontierten. Eine groß angelegte „Wahl-Charta '94“ trat im Januar 1994 als Bürger- Lobby für Umwelt und Entwicklung auf. Trotz (oder wegen?) der Beteiligung bekannter, mitgliederstarker Verbände wie Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND), terre des hommes, German-watch etc. fanden Befragungen der politischen Klasse nur sporadisch statt – in schwach besuchten Sälen vor eingeweihtem Publikum. Besser funktionierte der „Bürger-TÜV für Kandidaten“ der Münchener Bürger-Aktion „Verfassung '93“. Sie fragte nicht, wie die üblichen Wahlprüfsteine, politische Issues ab, sondern trug der politischen Klasse Ansinnen der Bürgergesellschaft vor: Volksbegehren, Trennung von Mandat und Amt, transparente Parteifinanzen und Offenlegung der Einkünfte der Volksvertreter, Aufhebung des Fraktionszwangs, demokratische Auswahl und Aufstellung von Kandidaten, Begrenzung der Wahlkampfkosten. So rückten die Spielregeln und die Moral der Demokratie selbst in den Mittelpunkt. Aus der „Seidlvilla“, dem Sitz der Bürger-Initiative in Schwabing, erhielten Bundes- und Landtagsabgeordnete aus München und Umgebung Fragebögen und Vorladungen zu öffentlichen Befragungen in Münchener Bierkellern. Die CSU war schwach, die Opposition besser vertreten. Die Lokaljournalisten waren kaum interessiert, aber die Säle gut gefüllt. Nach dem bayerischen Doppelwahljahr wollen die rund 100 Aktionisten (Durchschnittsalter um die 40) ihre frischgebackenen MdBs und MdLs kritisch durch die Legislaturperiode begleiten und Oberbayern in Sachen Deokratie fortbilden, zum Beispiel über Volksbegehren und Petitionsrecht.

Man sieht: Bürgergesellschaft werden ist nicht schwer, Bürgergesellschaft sein dagegen sehr. „Wir mischen uns ein!“ ist eine schöne, aufrührerische Attitüde, die rasch verfliegt, wenn sie in Arbeit ausartet. Es gibt nur zwei Wege zum politischen Engagement auf Dauer: entweder zurück in die Parteien, die auf Kontinuität angelegt sind und nachlassenden Eifer durch Routine überbrücken, oder vorwärts zu festen Bürger-Komitees, die eine bestimmte Programmambition mit Personenpräferenzen kombinieren, zur gegebenen Zeit genug Geld und Aufmerksamkeit versammeln und selbst politischen Nachwuchs hervorbringen. Die meisten Kampagnen werden sich am Ende des Wahljahres vermutlich frustriert ins politische Nichts auflösen. Was gelernt wurde, könnte so bald vergessen sein. Dabei stehen die nächsten Wahlen schon fest. The floor is open!