Ganz leicht im Kopf

■ Freimarkt mal anders: 600 Behinderte feierten, fuhren und flogen

Ute fliegt. Jedenfalls mal der eine Arm oder das andere Bein. Und ihr Kopf zeigt deutlich, wo sie sich eigentlich noch befindet, obwohl ihr Körper seit einer Minute wieder festen Boden unter den Füßen hat: da oben in 20 Metern Höhe im rotierenden „Frisbee“, im fast freien Flug eben.

Peter liebt das Kettenkarussell. Peter, der gerade behauptet, zehn Jahre alt zu sein, aber mindestens 25 ist. „Da wird man immer ganz leicht im Kopf!“ sagt er. „Aber der Schweiß läuft auch, ganz viel.“ Seine Finger krallen sich im Gedenken daran in das riesige Lebkuchenherz vor seiner Brust.

Ayses Betreuerinnen befreien sie aus den Fängen der „Krake“ und setzen sie wieder in den Rollstuhl: „Das war klasse. Wo ist das nächste?“ Silvia schüttelt entsetzt den Kopf und rollt mit einem gemurmelten „Viel zu gefährlich“ auf der Suche nach gebrannten Mandeln davon.

Mario ist unter gar keinen Umständen vom Fleck zu bewegen. Von allen Seiten dröhnt Musik, aber wenn man hier auf den Treppenstufen des „Commander“ steht, gehen die Bässe so richtig durch und durch. Anderen wird schon beim Anblick der sich wild überschlagenden und hin und her sausenden Kabinen schlecht, der blinde Mario beurteilt die Qualität der Fahrgeschäfte nach der Art des Luftzugs und der Schreie der Menschen. Aber selber mitfahren: „Nee.“

Das Bayernzelt erbebt unter dem Jubel der Menschen: „Resi, I hol di mit–m Traktor ab“, gesungen vom Fahrdienstleiter des Arbeiter-Samariter-Bundes, der souverän durchs Programm führt, läßt die Stimmung hochkochen. Und das ausschließlich bei Schaumwaffeln und Cola. Über 600 Menschen aus verschiedenen Bremer und Bremerhavener Behinderteneinrichtungen waren gestern von den Schaustellern auf den Freimarkt geladen: Eine alte Tradition, die bereits seit 1947 gepflegt wird. Damals waren es noch Waisenkinder, heute feiern Behinderte – zunächst unter sich auf der Sause im Bayernzelt bei Kaffee und Kuchen, anschließend auf dem gesamten Freimarkt. Selten sind dort so viele RollstuhlfahrerInnen zu entdecken – das behindertengerechte Karussell ist noch nicht erfunden. Die BetreuerInnen haben alle Hände voll zu tun, an dem einen oder anderen Fahrgeschäft wird heftig verhandelt: „Überschlag? Nichts da!“ lautet manchmal das letzte Wort. Bei zwei Frauen verstärken sich die spastischen Zuckungen als Folge der Fahrt doch erheblich; ihre Betreuerin lacht nur: „Je wilder das Karussell, desto besser...“ Die kostenlos verteilten Freimarkt-Bummelpässe (vier Karussellfahrten, eine Bratwurst, ein Eis) werden eifrig in Anspruch genommen. Der „Behindertentag“ ist eine Tradition, den sich die Schausteller auch etwas kosten lassen. Der „Behindertentag“ ist allerdings auch etwas, was so manche auf die Palme bringt, zum Beispiel Martina: „Und an anderen Tagen haben wir auf dem Freimarkt nichts zu suchen, oder was?!“

Die „Kreoline“ jedenfalls, der Nachbau vom Münchner Oktoberfest, hatte noch nie einen derartigen Zuspruch: Auch wenn die Live-Blasmusik erst abends wieder den Marsch blasen wird, verbreitet das sanfte Gefährt zu den Klängen von Wiener Walzer und Bayerischem Landler Seligkeit pur – und die steht kaum jemandem so ins Gesicht geschrieben steht wie den FreimarktbesucherInnen dieses Nachmittags. Susanne Kaiser