„Verstoß gegen die Menschenrechte“

Das seit einem Jahr geltende Asylbewerberleistungsgesetz schränkt die medizinische Versorgung von Flüchtlingen ein und sorgt für Zwei-Klassen-Medizin / Ärzte fordern seine Rücknahme  ■ Von Kathi Seefeld

Berlin (taz) – Mohammad A. kann wieder laufen. Fast so wie früher, sagt er, als er noch Schneider in Bagdad war. Soldaten hatten den kurdischen Familienvater hinterrücks niedergeschlagen. „Ein angebrochener Rückenwirbel war der Lohn für 75 Uniformen, die ich genäht hatte.“ Mohammad A. flüchtete und kam am 20. April nach Deutschland. Die Behörden schickten ihn von Berlin nach Chemnitz, von dort aus in weitere Heime. Als er dann in Lippendorf bei Leipzig eintraf, war er fast bewegungsunfähig. Daß Mohammad A. wieder gehen kann, verdankt er vielen – nur dem deutschen Asylrecht nicht.

Das seit dem 1. November 1993 geltende Asylbewerberleistungsgesetz (AsylblG) führte nicht nur zur Verteilung unappetitlicher Lebensmittelpakete an Flüchtlinge, sondern auch zu einer drastischen Einschränkung ihrer medizinischen Versorgung. Laut Paragraph 4 des Gesetzes darf der Umfang ärztlicher und zahnärztlicher Leistungen für AsylbewerberInnen im ersten Aufenthaltsjahr lediglich noch eine Behandlung „akuter Erkrankungen und Schmerzzustände“ umfassen. Alles, was langfristiger Natur scheint, löst keine Leistungspflicht aus. Schließlich könnte der Flüchtling noch vor Beendigung der Therapie abgeschoben werden. Vom Arzt, der regelmäßig nach Lippendorf kam, erhielt Mohammad A. gegen die Schmerzen Tabletten. Eine in der Nähe praktizierende Physiotherapeutin lehnte seine Betreuung ab, da sie zuviel bürokratischen Aufwand befürchtete. Das Sozialamt wiederum wollte nicht für Fahrtkosten zu anderen Therapeuten aufkommen. Geholfen hat letztlich Louis Kovanah vom Leipziger Integrationsprojekt „Felsenblume“. Er organisierte ein Auto und zahlte die 23 Mark pro Behandlung aus eigener Tasche.

Auch Sabeth K. hoffte in Lippendorf monatelang vergeblich, daß ihm deutsche Ärzte helfen würden, die Folgen seiner Folter zu überwinden. Der 32jährige Goldschmied war 1989 im Irak mißhandelt worden. Erst öffentlicher Druck brachte für ihn die Überweisung nach Berlin, wo er seit dem Sommer 1994 im Zentrum für Folteropfer in Behandlung ist. Ob und in welchem Umfang die Behörden der medizinischen Versorgung eines Asylbewerbers zustimmen, die über die Verhinderung akuter lebensbedrohlicher Zustände hinausgeht, ist Ermessenssache geworden. Hennes Haller von der Freiburger Ärzteinitiative für Flüchtlinge empfindet es als Hohn, daß das Gesetz ÄrztInnen die Möglichkeit einräumt, therapeutisch über das vorgeschriebene Maß hinaus tätig zu werden und dabei auf Teile des ärztlichen Honorars zu verzichten. Im Falle eines Nierensteinpatienten (die taz berichtete) hätten die Ärzte für die Zertrümmerung der Steine 10.000 Mark aufbringen müssen. Das Freiburger Sozialamt hatte seine ablehnende Haltung damit begründet, daß eine Zertrümmerung zwar die richtige Therapie, bei einem Asylbewerber die Notfallversorgung durch Schmerzmittel jedoch ausreichend wäre.

Das hatte im Frühjahr dieses Jahres für Haller und einige seiner Kollegen das Faß zum Überlaufen gebracht. Sie protestierten öffentlich, forderten eine Rücknahme des Gesetzes. „Wir sahen, daß das Asylbewerberleistungsgesetz nur noch einem Ziel diente: der Abschreckung.“ Die Beteiligung an einer derartigen Politik zu Lasten ohnehin benachteiligter Menschen, widerspreche dem ärztlichen Auftrag. „Der Paragraph 4 im Asylbewerberleistungsgesetz verstößt nicht nur gegen Menschenrechte, sondern auch gegen unser Standesrecht.“ Innerhalb kürzester Zeit, so Haller, schlossen sich 400 ÄrztInnen der Resolution der Ärzteinitiative an. Der Deutsche Ärztetag stellte sich im Mai dieses Jahres in Köln hinter diese Initiative. „Viele von uns fühlten sich fatal an 1933 erinnert, da war auch per Gesetz festgeschrieben, daß es Menschen gäbe, die anders behandelt werden sollten.“

Als Baden-Württembergs Innenminister Wind von der Geschichte des Nierensteinpatienten bekam, wurde die Angelegenheit medienwirksam aus der Welt geschafft. Grundlegend geändert hat sich jedoch nichts. Die Abschreckung wirkt. Ein Großteil der Bevölkerung, so Haller, sei begeistert über den Rückgang der Flüchtlingszahlen. „Aber auch wir Ärzte haben Fehler gemacht und sehen uns jetzt mit dem Problem konfrontiert, daß Randgruppen gegeneinander ausgespielt werden.“

Diskussionen über den Umfang medizinischer Leistungen gibt es inzwischen auch bei Kriegsflüchtlingen, die einen Rechtsanspruch auf uneingeschränkte Krankenversorgung genießen. Gerd R. aus Schönberg in Mecklenburg-Vorpommern betreut bosnische Flüchtlinge. „Es ist keine Seltenheit, daß diese Menschen, auch viele junge Frauen aus Kriegsgebieten unter Mangelerscheinungen leiden, die Zahnerkrankungen zur Folge haben.“ Doch ging es um die Gewährung von Zahnersatz, habe es beim Sozialamt schon so manches Mal geheißen: Die Betroffenen würden sowieso bald zurückkehren, dann könnten sie auch zu Hause ihre Zähne reparieren lassen. R. ist froh, daß bisher dennoch durch Gespräche und das Engagement von Medizinern geholfen werden konnte.

„Eine Pervertierung“, meinen die ÄrztInnen der Freiburger Initiative. Es sei Infamie, so Haller, wenn Leistungsansprüche der Zivilcourage und Mildtätigkeit einzelner Ärzte ausgeliefert sind. „Wir lehnen es ab, daß man uns beim Asylbewerberleistungsgesetz den Schwarzen Peter zuschiebt.“ Vor den Wahlen hätten sich Parteien bis hin zu den Grünen nur sehr zaghaft zu dem Thema geäußert. „Jetzt wird es Zeit, mit diesem Gesetz, das eine Zweiklassenmedizin in diesem Land festschreibt, aufzuräumen.“