■ Mit der alten Regierung zurück in die Zukunft
: Gesellschaft mit beschränkter Haftung

Die Drohung ist unmißverständlich. Was sich schon mit der Parole „Weiter so“ bedeutungsschwanger ankündigte, dem verleiht der alte und neue Kanzler jetzt programmatische Züge. Die Mehrheit sei „ausreichend“, beschied Helmut Kohl das Wahlvolk zum Abschluß des „Superwahljahrs“, jetzt werde weiterregiert „wie bisher“.

So gesehen, könnte Kontinuität zum zentralen Begriff des Jahres 1994 werden. Es liegt nahe, in turbulenten Zeiten auf bewährte Kräfte zu setzen. Besonders der auf Kontinuität bedachten „Mitte“ kommt das Politikangebot des Kanzlers gerade recht. Von der Bedrohung des liberaldemokratisch getönten Wohlstands sichtlich aufgeschreckt, hofft sie, Kohls „Weiter so“ möge sie weiterhin vor einem jähen Ende der Behaglichkeit bewahren. Auch wenn schon bald wieder das große Wehklagen darüber anheben wird – für sie verkörpert Kohl mit seinem biedermännischen Charisma und seinem unerschütterlichen Optimismus, was sie wünschen: Beständigkeit, Solidität und Sicherheit. Das signalisiert auch sein Programm für die kommenden vier Jahre: den Aufschwung absichern, die Stabilität wiederherstellen, die Kriminalität bekämpfen, Arbeitsplätze schaffen, die Familie stärken, die „Vaterlandsliebe“ pflegen.

Überraschungen waren von vornherein nicht vorgesehen. Zwar ist auch den Strategen der Koalition klargeworden, daß ihnen die bisherige Schönfärberei angesichts der Problemlawine nicht unbedingt weiterhilft. Dennoch halten sie an ihrem bewährten Prinzip fest: symbolisches Management, das vom Schein der Handlung sowie von Improvisation und kurzfristig angelegtem Krisenmanagement auf der Basis radikaler Problemvereinfachung lebt. Ob Innovationsschwäche der Wirtschaft, wachsende strukturelle Arbeitslosigkeit, sinkende Massenkaufkraft, der drohende Bankrott der Sozialsysteme oder das undurchsichtige wie ungerechte Steuersystem: in wohlaustarierten Formelkompromissen halten sie Allgemeinplätze fest, die weder den Kern der Probleme treffen noch die Details ihrer Entschärfung klären. So bleiben sie, was sie schon immer waren: verläßliche Sachverwalter des Status quo.

Daran wird sich wohl so bald nichts ändern. Der schwache sozialdemokratische Veränderungswille, per Bundesratsmehrheit machtvoll artikuliert, dürfte schnell am Beharrungsvermögen des Kanzlers hängenbleiben. Daß beim anschließenden Gefeilsche im Vermittlungsausschuß mehr herauskommen könnte als nur faule Kompromisse auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners, bleibt frommer Wunsch – die bisherige Praxis jedenfalls gibt zu Optimismus keinen Anlaß.

Zwar sind die Mehrheitsverhältnisse nach der Wiederwahl der Kanzlerpartei keineswegs so zementiert wie noch vor vier Jahren. Doch daß die Koalition hält, obwohl sie unfähig ist, die notwendigen Reformen entschlossen anzugehen, liegt nicht zuletzt am Debakel jener, die in dieser Republik so manches vorantreiben wollten: Die einen hat bei dem, was jetzt zu tun ist, schon auf halbem Weg der Mut verlassen; die anderen, unzureichend gerüstet, sind noch einmal um die Bewährungsprobe herumgekommen. Eine Opposition, die mit verdrängten Problemen statt mit konkreten Alternativen wirbt, gerät ohnehin von selbst in Not – vor allem, solange sie keine breite gesellschaftiche Mehrheit hinter sich weiß.

Wie sehr die Konservativen weiterhin den politischen Zeitgeist beherrschen, macht nicht nur die Reformangst der um ihre Besitzstände fürchtenden „Mitte“ deutlich. Auch der Geist des „Kohlismus“, wenngleich weniger durchschlagend, als die parteipolitische Rhetorik glauben machen wollte, ist alles andere als verweht. Selbst wenn die Versprechen von Steuererleichterungen (vorrangig für Unternehmen), weniger Staat und weniger Wohlfahrtsprogramme noch so unprätentiös klingen – ihnen kommt eine strategische Bedeutung zu. Mit der Neuauflage jener zu Beginn der achtziger Jahre in Mode gekommenen Angebotspolitik bereiten sie den Boden für eine konservative Wert- und Ordnungspolitik, deren nachhaltige Wirkung nicht zu unterschätzen ist, wenn sie erst einmal in Institutionen, Arrangements und Praktiken umgesetzt wird.

In den einschlägigen Debatten um Deregulierung, Standortsicherung oder Euro-Sklerose kündigt sich seit langem die Option auf einen neuen Modus der Krisenregulation an: weniger Staat und mehr Flexibilität, weniger Sicherheit und mehr Eigenverantwortung, weniger Gleichheit und mehr Freiheit, weniger Solidarität und mehr Unternehmergeist. Das „sozialdemokratische Jahrhundert“ neigt sich seinem Ende zu. In „Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert“ (P. Kennedy) soll jetzt auch das neue Deutschland auf „normal“ getrimmt werden. Dazu wird im Innern eine neoliberale Anpassung akzentuiert, nach außen hofft man, daß expansive Krisenstrategien weiter das Terrain für eine Weltmarktoffensive der deutschen (Export-)Wirtschaft ebnen.

Im Kampf um den Wirtschaftsstandort werden der Gesellschaft (nationale) Geschlossenheit und Opfersinn abverlangt. Es geht also auch um die Formierung eines neuen nationalen Kompromisses, nachdem der soziale Kompromiß des „Modells Deutschland“ der siebziger und achtziger Jahre zusehends aufgeweicht wurde. Als Staatsform der Zukunft beginnt sich die Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu etablieren.

Die Sammlung der „Mitte“ jagt damit freilich nicht nur neuen Konfliktstoff in das Gemeinwesen. Sie verhindert auch die notwendige Debatte über den Reformbedarf des neuen Deutschlands. Höchste Zeit für die Opposition, ihre Vision einer anderen Bundesrepublik weiterzuentwickeln. Denn trotz ökologischen Umbaus, Verkehrs- und Energiewende gibt es kein neues Leitbild für die Zukunft der Industriegesellschaft. Das gleiche trifft für die künftige Rolle Deutschlands auf internationalem Parkett zu.

„Die wichtigste politische Aufgabe des nächsten Jahrzehnts“, mahnt Ralf Dahrendorf, werde „die Stärkung der gesellschaftlichen Bindekräfte“ sein. Wer dabei nicht wieder in kuscheligen Gemeinschaftsideologien wie rechten Nationalismus oder altlinken Kollektivismus zurückfallen will, muß sich für eine solidarische Bürgergesellschaft einsetzen, die auf eine „Wiederbelebung des bürgerlichen Gemeinsinns“ (Amitai Etzioni) setzt und gleichzeitig neue Räume öffnet für gemeinschaftliches, nichtstaatliches Handeln. Dazu gehört auch eine Neudefinition des „Wohlfahrtsstaates“ auf der Grundlage der ökonomischen und politischen Restriktionen, da weder marktradikale Deregulierungsstrategien noch etatistische grün-rote Sozialstaatsmodelle ernsthafte Lösungsansätze bieten.

Trotz der Größe der Herausforderung besteht kein Grund zur Resignation. Denn die Chance einer Renaissance des Politischen steckt gerade dort, hat Ulrich Beck erkannt, wo nicht alte Gegnerschaften kultiviert werden, sondern „neue Inhalte Formen und Koalitionen entwerfen und schmieden“. Erwin Single