Sämtliche Vorzeichen verkehrt

Yves Klein, Schwarzgurt und Erfinder des blauen Schwamms: Eine eiskalte Retrospektive  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Miles Davis war zwei Jahre alt, als Yves Klein in Nice geboren wurde, und Yves war hundert Tage alt, als Andrew Warhola in Pittsburgh das Licht der Welt, wie man ja sagt, erblickte. Klein ist 1962, gewissermaßen zur Halbzeit der Epoche, gestorben: Sein Tod, der (zweite) Herzinfarkt eines ruhelosen, gereizten Vierunddreißigjährigen auf der Höhe seines Ruhms, ist unlösbar verwoben mit seiner Person und seinem Werk, das jetzt in Köln, Düsseldorf und Krefeld in kleinen, aber nicht unerheblichen Ausschnitten versammelt ist und ab heute als blaues Wunder der Nachkriegsmoderne zum Bestaunen freigegeben ist. Er hat den frühen Tod der Popheroen um ein Jahrzehnt vorweggenommen. Wie Joplin oder Morrison ist er nahezu generationslos in die Geschichte der Künste eingegangen; wenn man das Jahrhundert scant, leuchtet sein Leben und Werk gerade jenseits der Mitte auf, ein Gewitter im Protokoll der Ideen. Sein Tod ist ein Poptod, weil er als Konsequenz eines Lebensstils empfunden wird, ohne den das Werk niemals gewesen wäre, was es war. Die zweite Hälfte des Lebens, das wäre Backstage gewesen, die grauen Züge der eigenen Physiognomie im Garderobenspiegel bei Neonlicht. Vielleicht.

Yves Klein ist passioniert gewesen, aber ohne innere Bestimmung. Er hatte ein Faible für Spuk, hatte als junger Erwachsener eine Neigung zum Männerbund und versuchte – nachdem er die Schule geschmissen hatte – sich von den Losungen der Zeit so gut frei zu machen, wie es ging. Unter Freunden – emphatisch, exzessiv – hat er versucht, sein unruhiges Selbst mit Roßkuren unter Kontrolle zu bringen, als eifrig kosmische Fragen wälzender bei der Gesellschaft der Rosenkreuzer und versetzt parallel als fanatischer Judoka. Seine Bereitschaft, sich zu bezwingen, muß enorm gewesen sein: „Er war wie ein Klotz, der am wenigsten talentierte“ im Dreierbund der Freunde (wie sich einer von ihnen, der Maler Arman, erinnert): Aber er bringt es mit Selbstkontrolle, Neugier, Hingabe – und mit einem raffinierten Akt der Diplomatie – zum Schwarzen Gürtel. Die Auszeichnung, die er 1952 in Tokio vom Institut Kôdôkan bekommt, erkennt der französische Verband nicht an. Klein rächt sich mit einem Buch über die neuen (Zen-verwandten) Kôdôkan-Methoden, das erstaunlicherweise bei Grasset verlegt wird.

Seine Kunst ist die dritte Phase desselben Programms: Interesse für eine universale Disziplin, Aneignung der Normen bis zum Regelbruch, und dann reklamiert er seinen Platz in der Szene – nicht einmal als Guru, sondern gleich als Verkündiger letztgültiger Wahrheit, als Racheengel an der Zivilisation, die zurückschreckt vor ihrer Vollendung.

Von den Anfängen im Jahr 1954 bis zum Januar 1961 frißt er sich durch die Ecole de Paris, den Lettrismus und die amerikanische Malerei, bis er mit einer hochgeladenen Werkgrammatik aufwarten kann, als das erste Museum ihm die Chance einer Art Retrospektive gibt: das Haus Lange in Krefeld – eine städtische Galerie in einer roten Backsteinvilla, die Mies van der Rohe für eine Industriellenfamilie 1928 hatte bauen lassen. Die 105 Seiten starke Dokumentation dieser Ausstellung, die „Monochrome und Feuer“ hieß, ist das solide Rückgrat der jetzigen Bemühungen in Sachen Klein im deutschen Westen. Etwa achtzig Prozent der Arbeiten, schreibt Julian Heynen, seien auf 1960 datiert – also „während der Vorbereitung der Ausstellung entstanden“, die am 14. Januar des Jahres eröffnet wurde. „Das heißt, hier wurde weniger eine Retrospektive im faktischen als im idealen Sinne arrangiert.“ Es war also eine Retrospektive weniger von Arbeiten als von Methoden. Eine der Methoden hatte er vorher in der kleinen Galerie Iris Clert in Paris erprobt: einen weißen Raum auszustellen. Sofort machte er im Haus Lange ein Zimmer von absurdem Zuschnitt ausfindig, einen Schlauch, der nicht zum Grundriß des Miesschen Hauses gehörte und durch die Verdoppelung einer Trennwand in den repräsentativen Räumen des Parterres entstanden war. Er strich ihn weiß aus und ließ die beiden Türen am Kopf des Schlauchzimmers offen, an der Decke eine doppelte Neonröhre. Man muß kein findiger Hermeneut sein, um im Kleinschen System dem weißen Raum das Stichwort „Leere“ zuzuordnen. Ein bißchen Zen war an ihm hängengeblieben, und es reichte damals aus, das allgemeine Interesse um einen „Skandal“ zu bereichern. Klein war ja längst nicht mehr der bizarre Judoka aus Nizza, sondern eine temposetzende Gestalt auf der Pariser Kunstszene, die in ihm (was man noch nicht wissen konnte) ihren letzten leuchtenden Exponenten hatte, ein Komet jenes Himmels, dessen Farbe er gepachtet zu haben in Anspruch nahm. 1957, mit Ausstellungen tiefblauer Monochrome von großer Ähnlichkeit (in Mailand) und ebenso tiefblauer Objekte in Paris, hatte er einen Platz besetzt, auf dem sich Malerei und kultisches Handeln kreuzten. Beuys schob bereits, mit Fett und Filz, ebenfalls in Richtung Merkwürdigkeit und Obsession. Klein gewann damals Einfluß auf die rheinische Künstlerszene, und diese – in Gestalt der Schwester Günther Ueckers, Rotraut – auf ihn. Sie war 1957 Au pair bei Arman in Nizza, gerade aus Mecklenburg gekommen, 19 Jahre alt und „überhaupt noch sehr scheu“ (wie sie sich erinnert). Die beiden lebten bald zusammen in Paris, ein Paar wie aus einem frühen Antonioni-Film; „wir waren jung, schön und voller Liebe“. Rotraut Uecker (sie heirateten erst im Januar 1962), die sich selbst als Künstlerin verstand (und versteht), war das klassische Frauenopfer, aber nicht die klassische Muse.

Nicht durch sie, aber mit ihr kam er auf die überzeugendste Form aller seiner Arbeiten, genannt „Anthropometrien“ – Abdrücke von Körpern auf Papier. In Köln, nur dort, sind im großen Saal der Ausstellung Beispiele der verschiedenen Techniken zu sehen. Es sind entweder die Schatten liegender Figuren, die Abdrücke bemalter Körper oder, wie in einem Querformat „ohne Titel“ (Katalog Nr.83) von gut zwei Metern Länge, die Verschränkung der Techniken, des siebdruckartigen „Negativs“ und des malerischen „Stempels“. Meistens reduziert auf den Rumpf, wirken die Körper der Modelle fast wie Miniaturen, manche wie Rorschachtests, manche wie Bemalungen chinesischer Vasen – andere wie die warme Vertiefung in der Matratze, wenn die Liebste soeben gegangen ist. Klein hat seine komplexe Idee zurückgeführt auf „das schattenhafte Körperbild, das die Judokas beim Sturz auf der Dojo-Matte hinterlassen“ (Sidra Stich im Katalog). Er hat jedoch sämtliche Vorzeichen verkehrt: von männlich auf weiblich, von Kampf auf Eros, von Ritus auf Aktion, von bekleidet auf nackt, von Nichtkunst auf Kunst. Rotraut Uecker „hatte schon als 16jährige die Vision“ gehabt, zu Mozarts Musik „ohne Kleider zu tanzen“ – sie brachte jenen Impetus von deutschem Nackttanz mit, der auf die Unschuld der Offenbarung rekurriert. Im Atelier war sie seine Vertraute für allererste Versuche (auch solche mit Tierblut, vor denen Klein Angst bekam und die er vernichtete), bei den öffentlichen Aktionen trat sie ihre Funktion ab an drei Modelle, mit Hilfe derer der professionelle Aspekt der Arbeit – und seine perfide Anspielung auf die Geschichte der ewigen Susanna – verkörpert wurde.

Die Ausstellung im Museum Ludwig in Köln bringt die wesentlichen Werkphasen chronologisch zusammen, verfehlt den exzessiven Zauber dieses Künstlerlebens jedoch um Meilen. Das ohnehin problematische Untergeschoß ist durch aufwendige, aber fühllose Museumsarchitektur verstellt. Die vier weißen Kuben, in denen annäherungsweise Präsentationen des Frühwerks dargestellt sind, wirken noch wie ein Geistesblitz im Vergleich mit dem theatralischen Nachbau der Galerie Iris Clert in der rue des Beaux-Arts Nr. 3 in Paris. Am Eröffnungsabend (28. April 1958, dem 30. Geburtstag Kleins) waren Tausende von Leuten erschienen, um vorbei an zwei (tatsächlichen) republikanischen Garden für einen unverschämten Eintrittspreis den Raum der Galerie besichtigen zu dürfen, den Yves weiß gestrichen hatte („Le vide“). In Köln stehen anstelle der Garden deren Puppen, die Fassade ist offensichtlich von jemanden gemalt worden, der noch nie eine Pariser Hauswand aus der Nähe gesehen hat, und der (in den alten Fotos deutlich sichtbare) dunkle, wellige Textilbelag ist durch einen nagelneuen grauen Acrylteppichboden dargestellt. Eine Totgeburt, von vornherein.

Vielleicht war es keine grandiose Idee der Museumsdirektoren Marc Scheps in Köln und Armin Zweite in Düsseldorf, das Konzept an eine amerikanische Kunsthistorikerin abzutreten, die zufällig gerade an einem Buch über Klein arbeitete, als die ersten Ideen zu einer Retrospektive kursierten. Sie wollte, wie Scheps und Zweite im Vorwort des Katalogs aufs unglücklichste darstellen, „die Gemälde und Skulpturen nicht nur als ästhetische Konsumobjekte vorstellen, sondern sie in ihrer ganzen Bedeutung, im Zusammenhang mit Kleins Ideen, Schriften sowie den zahlreichen anderen realisierten und unrealisierten Projekten präsentieren“ – die Opposition von „Konsum“ und „ganzer Bedeutung“ ist sicher politisch korrekt, aber als Ansatz für die sinnliche Vermittlung von Kunstwerken – wenn man sie, zum Teufel, denn geliehen bekommt – völlig unfruchtbar. Auch gilt Sidra Stich in Amerika nicht gerade als erste Adresse für Eloquenz und Triftigkeit; sie ist ein Arbeitstier von vielen.

Was dabei herauskommt, ist eine ungenaue Historisierung, die keinesfalls die Enge, Gedrängtheit und Kleinteiligkeit der Räume und Ausstellungen in den fünfziger Jahren vermitteln kann, sondern ausschließlich den neureichen Umgang mit postmoderner Museumsarchitektur wiederholt, ein gewaltiger Aufwand an Technik, unter dem die Zartheit der Objekte bis zur Unsichtbarkeit verschwindet. Das Problem sind zwar auch, aber nicht nur, die Auflagen der Leihgeber, die ihre verstaubten Schwammreliefs in Plexisärge versenken lassen, bevor sie sie den bekanntlich fettspritzenden Augen museumsbesuchender Massen überlassen.

Die Düsseldorfer Ausstellung arbeitet mit der gleichen weißen Schachtelarchitektur und beschränkt sich auf Kleins „Kosmogonien“ (Regen- und Windbilder etc.) und Monochrome in Rot, Blau und Gold. Unter den erschwerten Bedingungen der Konservierung und durch den Einbau des niederen Trakts in die eigentlich sehr hohe Halle wirken die roten Reliefs am stärksten – sie geben das wenige Licht, das sie auffangen, warm leuchtend wieder zurück. Leider ist es so, daß man sich

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das Museum Ludwig nicht ersparen kann, obwohl es schrecklich ist und die Ausstellung der Kunstsammlung NRW weniger informativ ist, wenn auch nicht ganz so deprimierend. Wer eine stille Begegnung mit den Arbeiten sucht, muß nach Krefeld fahren. Die dortige Ausstellung hat zwar auch die Schwäche, daß sie sich im Aufbau an „Monochrome und Feuer“ anlehnt, und weiterhin, daß die zweite Tür zum „Raum der Leere“ von hinten zugemauert ist, aber dafür bekommt hier keiner einen hysterischen Anfall, wenn man mal mit der Nasenspitze an den Plexikasten kommt, um den Blick in einem Sumpf ultramarinblauer Schwämme (Katalog Nr.12/1957) versinken zu lassen.

Der eigentliche Clou aber ist die Ausstellung in der Kölner Galerie Gmurzynska, dem roten Kastenbau im südlichen Vorort Marienburg. Dort kann man den Werken Yves Kleins in einem selbstverständlichen, unangestrengten Ambiente (aber Konsum, ja, ja, Frau Stich!) begegnen, ohne Plexi, Spezialarchitektur und dröhnendes Video.

Bei den Reliefs und Schwämmen ist die Ausstellung ein bißchen dünn, bei den Anthropometrien mit ausschließlich charismatischen Arbeiten bestückt. Es gibt davon mindestens 150 auf Papier, die Galerie zeigt fünf. Das Museum Ludwig zeigt sieben – und nur eine der großen, ekstatischen Arbeiten, die durch wüstes Toben der Modelle auf dem Papier zustandegekommen sind (Gmurzynska zeigt eine zweite). Was aber macht ein großes Museum für einen ungeheuren Rummel, wenn es nicht einmal in der Lage ist, ein zweites Hauptwerk einer bestimmten Serie zum Vergleich beim ortsansässigen Kunsthandel auszuleihen?

„Yves Klein“. Museum Ludwig in Köln und Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, bis zum 8. Januar 1995. Katalog von Sidra Stich, bei Cantz, broschiert, (dort) 49 DM.

„Im weißen Raum: Lucio Fontana/ Yves Klein“. Museen Haus Esters (Fontana) und Haus Lange (Klein), bis zum 5. Februar 1995. Dokumentation zu „Monochrome und Feuer“ (1961) von Julian Heynen 25 DM, Katalog zu beiden Ausstellungen 35 DM.

„Yves Klein, le dépassement de la problématique de l'art“. Galerie Gmurzynska, Köln, Goethestraße 65a, bis 28. Januar 1995. Katalog enthält ein Gespräch mit Rotraut Klein-Moquay, 40 DM.