Die Letzten lassen das Licht an

Eine Landschaft verschwindet, ein Dorf stirbt, die Menschen sind schon weg. Im Thüringer Wald wird die größte Talsperre Mitteleuropas gebaut, obwohl der Wasserverbrauch gesunken ist  ■ Aus Leibis Thorsten Schmitz

Gott hat 527 Jahre lang ein Auge auf den 104-Seelen-Flecken Leibis geworfen. Vor zwei Jahren erst schlugen Bagger den Allerhöchsten in die Flucht. Am Ufer des Rinnsals Lichte liegt ein verwaschenes Plakat aus der Dorfkirche: „Der Mensch bleibt Mensch und die Natur Natur, solange Gott ist“, steht darauf. Die Menschen sind weg, Natur ist längst nicht mehr. Gott schaut anderswo hin. Armes Lichtetal.

Dort, wo der Thüringer Wald den größten Faltenwurf aufweist, steht das Geisterdorf Leibis. Sein Name, 1465 erstmals urkundlich erwähnt, wurde inzwischen von allen Landkarten gestrichen. Seit zwei Jahren ist Leibis Sperrgebiet. Das Lichtetal war das schönste Tal Thüringens, sagen die Menschen mit verzücktem Blick ins Unendliche. Eine Landschaft, so groß wie 177 Fußballfelder, verschwindet.

Zur Jahrtausendwende wird eine hundert Meter hohe Stahlbetonwand, die größte Europas, 44 Millionen Kubikmeter Lichtewasser zusammenstauen. Diesem gigantischen Kunstsee steht Leibis im Weg. Schon 1979 erfuhren die 104 Dorfbewohner, daß ihr Tal eines fernen Tages geflutet würde. So recht mochte niemand daran glauben. Und an Widerstand glaubten die Leibiser schon gar nicht.

Der Trinkwassersee, in dem niemand baden darf, wird 750 Millionen Mark kosten – einschließlich der „Sitzkrücken“ für Greifvögel als Ersatz für Tausende gefällter Fichten. Laut Einigungsvertrag sind einmal begonnene Bauwerke zu vollenden. 750 Millionen Mark und die Zerstörung einer Landschaft, obwohl der Wasserverbrauch nach Auskunft des Umweltministeriums in Thüringen stetig zurückgeht. Obwohl das kleine Bundesland zum industriellen Notstandsgebiet herabgewirtschaftet ist, in dem weiterhin alle zwei Wochen ein großes Unternehmen dichtmacht. Obwohl bereits 172 Thüringer Bäche in Talsperren gestaut werden.

Aber „es wäre doch ein Wahnsinn, das Projekt zu stoppen, nachdem nun schon soviel Geld ausgegeben worden ist“, findet Heiko Kraft, Bauleiter der Talsperre Leibis-Lichte. Die Landesregierungen von Sachsen und Sachsen-Anhalt, die zunächst am Talsperrenbau beteiligt waren, sehen das anders. Sie sprangen 1991 wegen des auch in ihren Ländern sinkenden Wasserverbrauchs ab.

So sucht die Talsperrenverwaltung neue Gründe für die größte und teuerste Talsperre Mitteleuropas im Thüringer Wald: Im Jahre 2025, so wollen Statistiker herausgefunden haben, werde Thüringens Trinkwasserverbrauch das durchschnittliche Niveau der alten Bundesländer von 145 Litern pro Tag und Einwohner erreicht haben. Derzeit verbrauchen die Thüringer durchschnittlich 110 Liter Wasser pro Tag. Zu DDR-Zeiten, als der Kubikmeter für Betriebe und Privathaushalte zwischen 0 und 45 Pfennigen kostete, waren es doppelt soviel.

Umweltminister Hartmut Sieckmann (FDP), den die Bündnisgrünen in Minister Sickermann umgetauft haben, verspricht, dies sei die letzte Talsperre, die in Deutschland gebaut werde. Ein Mitarbeiter des Ministeriums läßt aber durchblicken, daß das Projekt Leibis-Lichte auf jeden Fall zu gigantisch projektiert sei. Aber jetzt den Bau zu stoppen, „dazu ist es zu spät“.

Die Lokalblätter betreiben wie geklont Volksaufklärung für den Kunstsee. „Leibis im Leichenhemd“ (Allgemeiner Anzeiger) tue zwar der Seele weh, fördere aber das leibliche Wohl zumindest der Nachgeborenen. Denn ab der Jahrtausendwende sollen 850.000 Ostthüringer „köstliches Lichtewasser“ trinken und Touristen auf der Staumauer spazierengehen.

Leibis stirbt langsam. Nachts wüten Jugendliche aus der Gegend in den schiefergedeckten und eigentlich denkmalgeschützten Häusern rum. Sie legen Feuer, schmeißen Fensterscheiben ein und reißen Bushaltestellen aus ihrem Fundament. Tagsüber kommen Männer in mutig gemusterten Freizeitanzügen in das Freiluft- Museum und betätigen sich als Chronisten. Mit zugekniffenem Auge und einer Sonderangebots- Videokamera suchen sie die Zeit festzuhalten. Und mitunter entdecken sie durchs Objektiv ein Schnäppchen. „Guck mal“, ruft ein Hobbyfilmer aus der Nebengemeinde Unterweißbach seinem angeödeten Sohn zu: „Russische Kieferbretter!“ Gesehen, verstaut. Im hellblauen Trabi rauschen die beiden davon.

Für 14 Millionen Mark hat die Talsperrenverwaltung in den letzten beiden Jahren ein Neu-Leibis am Ortsausgang von Unterweißbach errichten lassen. Neu-Leibis ist so neu, daß es auf keinem Verkehrsschild steht. Daß es dort keine Bürgersteige gibt. Daß kein Bäcker Brötchen verkauft, kein Metzger Koteletts, kein Kiosk Zigaretten. Daß man ohne Auto aufgeschmissen ist und die durchschnittliche Laufzeit nach Unterweißbach 45 Minuten beträgt.

Auf einem Grashügel stehen 23 weißgetünchte Einfamilienhäuser wie aus dem Quelle-Katalog. Jedes Haus hat ein bißchen wimbledon- akkurat gehaltenen Vorgartenrasen und auf Limousinengröße zugeschnittene Garagen, in denen die Leibiser ihre Trabis unterstellen. Die 102 umgesiedelten Seelen teilen sich eine Münztelefonzelle und einen Briefkasten, der montags, mittwochs und freitags geleert wird.

Die aseptische Siedlung hat in Unterweißbach Neid gesät. Die Wurstverkäuferin im Lebensmittelgeschäft, die damit beschäftigt ist, Gewürzdosen zu sortieren: „Die sind wie ein Fremdkörper in unserem Dorf. Wohnen in Luxushäusern und beschweren sich auch noch!“ Und die drei arbeitslosen Skinheads, die in der Sportplatzkneipe bei Boney M. und Cuba Libre ihrem Leben mit Skatspielen einen Sinn geben, darf man erst gar nicht fragen, was sie von den neuen Nachbarn halten: „Verpiß dich“, wird man hier beschieden. „Wir haben kein Geld, und die kriegen's hinterhergeschmissen.“

Die Unterweißbacher und die Neu-Leibiser müßten sich nur mal zusammensetzen. Dann würden sie feststellen, daß sie gemeinsam klagen könnten. Denn die alten Leibiser fühlen sich in Neu-Leibis wie die Fichten aus dem Lichtetal. Man hat sie rausgerissen, sie werden keine Wurzeln mehr schlagen.

Bettina Kessel, 68, etwa hat bis heute „nicht so richtig“ begriffen, daß ihr Heimatdorf in Kürze 100 Meter unter dem Wasserspiegel liegen wird. Manchmal träumt sie das und wacht dann zitternd auf. Zu schaffen macht ihr außerdem, daß sie nun in einem Haus lebt, in dem die Gasheizung die Räume „schnell warm macht, schnell aber auch wieder kalt“. Im alten Leibis hat sie Holz gehackt, jetzt findet sie jeden Tag „Scheißdreck“ im Briefkasten. Die Gasrechnung zum Beispiel. Wie all die anderen Alt-Neu- Leibiser wäre Bettina Kessel nie auf die Idee gekommen, nochmal in ihrem Leben umzuziehen. „Warum hätte ich das tun sollen, die paar Jahre, die mir noch bleiben. Mir hat's in Leibis gefallen.“ Widerwillig führt sie nun ihren Hund 50 Meter nach links und 50 Meter nach rechts auf der asphaltierten Straße aus. Ihre Nachbarin Sigrid Werz stopft die klammen Hände in die Kittelschürze und findet einen entschiedenen Vorteil im verordneten Umzug: „Hier scheint zumindest die Sonne.“ Im alten Leibis war sie im September unter- und erst im März wieder aufgegangen. Sie hatte sich den Winter über hinter den Bergen versteckt gehalten. Aber der „viele Wind“ in Neu- Leibis! „Der ist nicht schön.“ Wie auch der schleichende Zerfall ihres alten Dorfes, in dem sie vor 58 Jahren zur Welt kam. „Hoffentlich reißen sie es bald ab, dann hätten wir endlich unsere Ruhe“, sagt sie und flüchtet in ihr 330.000-Mark-Refugium. Das Rotkraut brennt sonst an.

Der Versuch der Talsperrenadministration, die Leibiser mit Haus und Gasheizung ruhigzustellen, wirkt nur begrenzt. Die Seele des Dorfes ist beim Umzug verlorengegangen. Das Wiedergutmachungsgeld hat seine betäubende Wirkung bis heute nicht richtig entfalten können. „Jeder ist nur noch für sich“, sagt Jens Rabe. Im alten Leibis besaß er ein Sägewerk, jetzt zupft er Unkraut und poliert seinen Gartenzwerg, von dem er noch nicht so genau weiß, wo er am besten „wirkt“. „Es gibt einfach kein Gemeindeleben mehr“, noch nicht mal eine Dorfkneipe, in der man zusammensein könnte. Im alten Leibis traf man sich zum Plausch in der Dorfschule, und der Pfarrer spielte auf einem Harmonium. Jetzt ertönt aus allen Häusern die gleiche Musik: ARD, ZDF oder RTL. So wie die Leibiser in der Talsperre einen Schicksalsschlag sehen, so haben sie auch ihren Sprachschatz um ein Wort erweitert, das bislang dem kapitalistischen Westen vorbehalten war: „Es ist anonym geworden unter uns.“

Einmal aber hat die Dorfgemeinschaft noch funktioniert. Als 102 Leibiser ihre Koffer packten und den drei Kilometer entfernten Neu-Leibis-Hügel erklommen, zogen zwei Leibiser nicht mit. Und das war Absicht. Gerhard Lotze, 61, und Jürgen Zerlitzki, 26, hätten im sauberen Neu-Leibis nur gestört, war des Dorfes Ansicht. Die beiden trinken gerne und reden ungeschminkt. 102 Leibiser mögen das nicht. Deshalb hielten sie alle noch einmal zusammen und konnten die Talsperrenverwaltung davon überzeugen, daß Lotze und Zerlitzki besser nicht am kollektiven Umzug teilnehmen.

Den beiden ungleichen Männern wurde daraufhin eine drittklassige Mietwohnung in Unterweißbach zugewiesen. Aber dorthin wollten sie nicht. Und so wohnen die „Asozialen“ – so die Neu- Leibiser über die letzten Alt-Leibiser – noch immer im alten Dorf. Längst ohne Strom und ohne Wasser. Für die beiden die Versorgung aufrechtzuerhalten würde sich nicht lohnen, rechnet die Talsperrenverwaltung vor. Und außerdem will sie sie ja loswerden. „Gewaltlos“, sagt Heiko Kraft.

Die Dissidenten des alten Leibis aber wollen bleiben, solange es geht. Lotze und Zerlitzki essen Kartoffeln aus Vorgärten und Holunderbeersuppe. Einmal im Monat fahren sie auf ihren klapprigen Rädern zum Arbeitsamt nach Neuhausen, Unterstützung abholen. Einen guten Teil davon lassen sie in den Kneipen Unterweißbachs. Weil es dort warm ist.

Nachts radeln sie dann die kurvenreiche Straße nach Leibis zurück. Und wenn die Neu-Leibiser bereits unter ihren Daunen liegen, flackern bei Gerhard Lotze und Jürgen Zerlitzki noch die Kerzen. „Damit die Vandalen wissen“, sagt Lotze, „daß da noch wer wohnt.“