Die Schule als neutraler Ort

Die französische Regierung erließ ein Dekret, das Kopftücher an Schulen verbietet. Seit Wochen kämpfen muslimische Mädchen dagegen an. Doch allmählich läßt ihre Widerstandskraft nach.  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Der handgroße Aufkleber ist die einzige Unregelmäßigkeit an dem dunkelgrün lackierten Tor aus massivem Metallgitter. „Bekämpft den Rassismus, nicht die Immigranten“, steht auf dem verwitterten Zettel. Hier am Tor sollen muslimische Mädchen ihre Kopftücher abnehmen und in die Tasche stecken. Mit bloßem Haupthaar sollen sie in die Welt des Lyzeums Saint-Exupéry eintauchen. So wollen es der Rektor der Schule und auch der französische Erziehungsminister; sie berufen sich dabei auf die grundlegenden Prinzipien der französischen Republik.

Das „Saint-Ex“, wie die 1.500 SchülerInnen ihr Gymnasium nennen, liegt mitten im „islamischen Frankreich“. Fünfzig Kilometer nordwestlich von Paris, am Rand der Industriezone der einstigen Kleinstadt Mantes-la-Jolie. Sein Einzugsbereich reicht weit. Manche SchülerInnen kommen aus kleinen Dörfern mit mittelalterlichen Kirchen, wo sich die NachbarInnen noch über die Straße hinweg grüßen. Die meisten aber wohnen in Trabantenstädten mit Häusern, die aussehen wie hochkant und flach aufgestellte Schuhkartons.

Naima, Rahima und ihre Freundinnen laufen nur ein paar Minuten zum Saint-Ex. Nach Schulschluß lassen sie den Parkplatz vor den Schultoren, die städtischen Sportanlagen und die Gewerbezone hinter sich, überqueren die Umgehungsstraße, und schon stehen sie vor den Wohntürmen von Val-Fourré. Zwanzigtausend Menschen leben in den Sozialwohnungen. Die meisten – 80 oder 90 Prozent, heißt es offiziell – stammen aus Algerien und Marokko. Die genauen Zahlen kennt niemand, schließlich haben die jungen EinwohnerInnen von Val-Fourré längst französische Pässe.

Seit Tagen hüllt der Herbstregen das Saint-Ex und das Val- Fourré in eine graue Wolke. Naima stapft in knöchelhohen schwarzen Doc-Martens-Stiefeln durch die Pfützen zur Schule. Sie trägt schwarze Nylonstrümpfe, einen weiten braunen Glockenrock, eine schwarze Jacke und ein graues Kopftuch mit feinen, gelben Streifen. Das Tuch hat sie tief in die Stirn gezogen, über Wangen und unter dem Kinn weitergeführt und am Hinterkopf mit einer silberfarbenen Nadel fixiert. So hält es die Fünfzehnjährige seit ihrem elften Geburtstag. Auch wenn ihre marokkanische Mutter ein solches Tuch trägt, die Entscheidung, das islamische Kleidungsstück anzulegen, hat Naima allein gefällt.

Vor ein paar Wochen wurden die Kopftücher der Mädchen zum Politikum. Im September schickte der Erziehungsminister ein Rundschreiben an alle staatlichen Schulen, wonach das „auffällige religiöse Zeichen“ im Unterricht verboten sei. Dreiundzwanzig islamische Schülerinnen des Saint-Ex, meist aus marokkanischen Familien, wehrten sich gegen das Verbot. Seither dürfen sie nicht mehr in die Klassenräume und auf den Pausenhof. Sie haben gestreikt und demonstriert und rechnen jetzt täglich mit einem generellen Schulverweis. Dennoch bestehen sie auf dem Tuch.

Jahrelang ist das Kopftuch auf dem Saint-Ex geduldet worden. Die LehrerInnen haben darüber hinweggesehen, auch wenn es manche gestört hat. Es gab keine Handhabe dagegen. Ein alter Lehrer, „selbst Christ, aber mit vielen jüdischen Freunden“, hat einmal eine Schülerin aufgefordert, sie solle das Kopftuch ablegen oder zu Hause bleiben. Das Mädchen blieb weg. „Sie ging auf eine katholische Privatschule. Da hat man ihr das gleiche gesagt, und sie legte ihr Tuch ab. Wahrscheinlich, weil sie da Schulgeld zahlen mußte“, erinnert sich der Lehrer, der lieber ungenannt bleiben möchte, bitter.

Für ihn ist die Schule „ein neutraler Ort“. Auf der Straße stört es ihn nicht, wenn die Leute mit dem Kopftuch oder der jüdischen Kippa herumlaufen. Im Gegenteil: Er mag die Farben, die kulturelle Vielfalt. „Aber im Unterricht lenkt das ab, stört die Konzentration. Vor allem bringt es etwas in die staatliche Schule hinein, das die französischen Revolutionäre für immer aus ihr verbannt haben: die Religion.“ Am liebsten wäre dem Lehrer die Rückkehr zur Schuluniform. Ihm schwebt ein schlichtes, langes Hemd vor, das alle tragen müßten.

Seit 1905 ist die Trennung von Staat und Kirche für die Schulen verpflichtend. Die laizistische Schule soll die jungen Leute bilden, auf den Beruf vorbereiten und zu StaatsbürgerInnen machen. Was auch immer diesem integrierenden Auftrag zuwiderläuft, hat in ihr keinen Platz. Religion ist Privatsache. Der Mittwoch ist schulfrei, wer will, kann seine Kinder mittwochs in den Religionsunterricht schicken.

Statt Dialog nur Haß und Mißtrauen auf beiden Seiten

Naima büffelt an diesem Vormittag Wirtschaft und Spanisch. Dann geht sie nach Hause, wo sie ihren Teppich zum Mittagsgebet ausbreitet, während die Jungen und Männer in die große Moschee von Val-Fourré gehen. Hinter den Moscheemauern liefern sich islamische Fundamentalisten und Anhänger eines weltoffenen und toleranten Islams seit Jahren einen heftigen Streit, von dem nur wenig nach außen dringt. Auf dem Saint- Ex glauben manche Lehrer, daß aus dieser Moschee auch die Weisung zum Kopftuchtragen kam. Das französische Fernsehen ging mit versteckter Kamera in Gebetsräume von Val-Fourré, um islamische Fundamentalisten aufzuspüren. Unterstützer algerischer Terroristen fanden die Kameraleute nicht – dafür Mißtrauen und Haß gegen die französischen Behörden.

„Natürlich bin ich ein Muslim“, sagt ein sechzehnjähriger Saint- Ex-Schüler, „ich bete auch. Aber ob die Mädchen ein Kopftuch tragen, das ist mir völlig egal.“ Das Verbot stört den kraftstrotzenden jungen Mann. Er wittert einen Angriff gegen die Moslems in Frankreich und Wählerstimmenfang bei Ausländerfeinden hinter dem ministeriellen Rundschreiben. Und er hat Angst, daß die große staatliche Schule, in die Christen, Moslems und Juden gemeinsam gehen, darunter leidet. „Erst seit die FIS in Algerien so stark geworden ist, wollen die das verbieten. Vorher waren Kopftücher hier überhaupt kein Thema“, erklärt er unter dem beifälligen Nicken seiner Freunde.

Die FIS, die Islamische Heilsfront Algeriens, beschäftigt auch Naima. Ihre algerischstämmige Freundin war im Sommer in Algerien bei den Großeltern auf dem Dorf. „Da werden auch Mädchen mit Kopftuch vergewaltigt“, ereifert sich die Sechzehnjährige mit dem leuchtendgelben Tuch, „nur schreibt niemand darüber. Die Journalisten verdrehen die Nachrichten aus Algerien. Sie schreiben nur über die Greueltaten der FIS und nichts über die anderen.“

Naima hat neulich mit dem Megaphon auf der Motorhaube eines PKW gestanden und über hundert DemonstrantInnen erklärt, warum sie auf ihrem Kopftuch besteht. „Wir bedecken unseren weiblichen Charme, und wir wollen hier lernen. Weiter nichts. Ich habe viele Freundinnen, die kein Kopftuch tragen.“ Die Fünfzehnjährige hat in den letzten Wochen mit Dutzenden von JournalistInnen geredet, war im Fernsehen und auf den Titelseiten französischer Tageszeitungen. Alle Fragen zum Kopftuch-Streit, zum Islam und zu ihrer Familie kennt sie in- und auswendig. Sie antwortet druckreif. Sie kann ganze Vorträge über die Toleranz des Islam halten und weitschweifend davon berichten, wie eigenständig sie ihre Entscheidung gefällt hat.

Von den anderen Mädchen aus der Protestgruppe haben sich die meisten zurückgezogen. Sie reden nicht mehr mit Fremden. Wer sie anspricht, erntet ein schnelles „Wir haben alles gesagt“. Auch auf provokative Zurufe im Stile von „Ihr tut das doch nur, weil der Imam es befiehlt!“ reagieren sie nicht. Ihre früheren KlassenkameradInnen, mit denen sie bis zu den Sommerferien täglich zusammensaßen, sehen sie nicht mehr, seit sie vom Schultor aus direkt in ihr abgeschirmtes Klassenzimmer gehen und den Pausenhof nicht mehr benutzen dürfen.

Die sechzehnjährige Schülerin, die aus einem Nachbardorf zum Saint-Ex fährt, hat ihre muslimische Freundin seit Wochen nicht mehr gesehen. Ob sie die Schule verlassen hat oder jetzt kopftuchtragend in dem abgeschirmten Raum sitzt, weiß sie nicht. Sie, die selbst praktizierende Katholikin ist, kann die Hartnäckigkeit der Mädchen nicht verstehen. „Das hat viel Unruhe an unsere Schule gebracht“, klagt sie, „der Streik, die Demonstrationen. Wir reden schon gar nicht mehr davon, weil es immer gleich Spannungen gibt.“

Tagelang bewachten Polizisten das Tor des Saint-Ex. Neben ihnen stand Schulrektor Alain Bondelle und kontrollierte die Ausweise der 1.500 ihm Anvertrauten. Über die ganze Geschichte, den Streit an seiner Schule, den Medienansturm, die angespannte Stimmung, ist er sichtbar unglücklich.

Bald wird sich der Disziplinarrat zusammensetzen und einen Schulverweis gegen die dreiundzwanzig Mädchen aussprechen. Was danach kommt, betrachtet Rektor Bondelle nicht mehr als sein Problem. Private islamische Schulen, wie sie manche Imame in Frankreich in den letzten Wochen gefordert haben, würden sein Problem aber auch nicht lösen, meint er.

Unter dem Eindruck des Konflikts auf dem Saint-Ex, der sich in ähnlicher Form an anderen Schulen der Pariser Banlieue und in manchen Provinzstädten abspielte, haben zahlreiche französische PolitikerInnen in den vergangenen Wochen ihre Meinung zum Kopftuch geändert. Von zweitausend Schülerinnen, die vor den Sommerferien Kopftücher trugen und dem Erziehungsministerium bekannt waren, sind heute noch ein paar Dutzend übriggeblieben. Die anderen stecken das Tuch ein, wenn auch erst am Schultor. Die Organisation „SOS-Racisme“, die 1989 beim ersten „Kopftuchstreit“ in Frankreich noch strikt gegen ein Verbot und für Dialog und Toleranz war, spricht sich heute ausdrücklich für ein Gesetz gegen religiöse Zeichen an der Schule aus. Ihr Präsident Fodé Sylla meint, die Situation habe sich grundlegend gewandelt: „Mädchen, die heute kein Kopftuch tragen wollen, werden von Islamisten unter Druck gesetzt.“

Naima hält sich nicht für eine militante Islamistin. Sie befürchtet, daß die Regierung „islamische Ghettos“ schafft. Der Schulleitung hat sie einen „Kompromißvorschlag“ gemacht: Statt der Kopftücher wollen sie und ihre zweiundzwanzig Mitstreiterinnen Mützen oder Hüte überstülpen. Sie zieht einen alten Strumpf aus der Tasche und erklärt: „Hauptsache, die Haare sind bedeckt.“ Sollte die Schulleitung ablehnen, verläßt Naima das Saint-Ex. Dann bleiben der Fünfzehnjährigen, die Soziologie studieren will, nur noch zwei Wege zum Abitur: entweder der Fernunterricht, allein zu Hause, oder der Umzug nach Casablanca, „wo ich schon eine Schule kenne“.