Sie ist frei, ihr Kampf geht weiter

Irmgard Möller wurde gestern aus der Haft entlassen / Freiheit für die RAF-Gefangene nach 22 1/2 Jahren / Niemals hat eine Frau in der BRD so lange hinter Gittern gesessen  ■ Aus Lübeck Bascha Mika

Was bleibt von einem Menschen, der sein halbes Leben eingemauert war? Was bleibt von einer Frau, die in Jahren der Einzel- und Kleingruppenisolation an sich selbst ersticken sollte? Gestern hat Irmgard Möller ihr Gefängnis verlassen. Freiheit für die RAF-Gefangene. Nach 22 1/2 Jahren Haft. Nur ein Zyniker redet da von „vorzeitiger“ Entlassung. Mit 25 Jahren wurde Irmgard Möller weggesperrt, heute ist sie 47.

11 Uhr vormittags, eine Seitentür der Lübecker Justizvollzugsanstalt öffnet sich. Die Fotografen reißen ihre Kameras hoch – doch es ist nur eine Beamtin, die eine Tasche und ein Wäschebündel vor der Türe abstellt. Dahinter erscheint Irmgard Möller, zögert, macht zwei, drei Schritte, stemmt die Hände in die Hüften und betrachtet ruhig ihr Begrüßungskomitee. Ein Böller explodiert, Klatschen, Rufe.

Aus Ost- und Westberlin sind Freunde und UnterstützerInnen angereist, aus Hamburg und Frankfurt. 200 sind es sicher. Blumen haben sie mitgebracht, Sekt und einen Lautsprecherwagen, aus dem Musik dröhnt. „Die Blumen sollten sie lieber auf die Gräber der Opfer legen“, brummt ein älterer Mann, der sich in die vorderste Reihe geschoben hat. Doch das hört niemand. „Hoch die internationale Solidarität“, rufen die BesucherInnen lauthals. Vor ihnen drängen sich Presseleute.

Schnell geht die „freie Bürgerin Möller“ (Polizei-O-Ton) auf ihre Freunde zu. Roter Pulli, schwarze Lederjacke, Jeans. Schmal ist sie, die Nase spitz im blassen Gesicht, so bleich ist es, daß es fast gelb wirkt. Die Haut auf den Wangen ist durch Narben zerstört. „Mein Gott, sieht sie fertig aus“, murmelt einer erschrocken. Irmgard Möller wirkt sehr gefaßt, doch sie ist eine schwerkranke Frau. „Ihr Kreislauf ist labil“, berichtete ihre langjährige Mitgefangene Gabriele Rollnik im letzten Jahr, „die Schilddrüse arbeitet fehlerhaft, ihr Immunsystem ist angegriffen.“

Gerangel mit den Kamerateams, die FreundInnen boxen sich durch, umringen die Freigelassene und versuchen, sie vor der Presse abzuschirmen. Erst vorsichtig, dann auch mal stürmisch umarmt Irmgard Möller die, die sie in den Jahrzehnten ihres Bunkerdaseins nicht vergessen haben. Günter Sonneberg ist dabei (15 Jahre RAF-Gefangener), Gabi Rollnick (15 Jahre), Monika Berberich (18 Jahre), Brigitte Asdonk (12 Jahre). Gut 300 Jahre Knast sind vor dem Tor der Lübecker JVA versammelt. Aus Uruguay sind drei ehemalige Tupamaros angereist.

Ab 1971 war Möller bei der RAF, 1972 wurde sie verraten, festgenommen und zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Kurz vor der Freilassung wurde sie zum zweiten Mal verraten. Ein „Kronzeuge“ hatte ausgesagt, sie hätte sich 1972 an einem Bombenanschlag auf das US-Hauptquartier in Heidelberg beteilgt. Drei GIs kamen dabei ums Leben. Das brachte ihr 1979 eine lebenslange Strafe. „Die Spuren dieser Jahre“, sagt Brigitte Asdonk, „sind bei allen Gefangenen im Gesicht zu sehen. Diese Spuren kannst du nicht wegmachen.“

Zwei Jahre schmorte Möllers Antrag auf Entlassung – bis sich jetzt endlich der Beißkrampf des Staates löste. Freiheit für Irmgard Möller ist Freiheit für eine Symbolfigur. Sie hat die Stammheimer Todesnacht überlebt, sie hat die „Rachejustiz“ (Ralph Giordano) und das Gewürge um ihre Freilassung überstanden, ohne sich der geforderten „psychiatrischen Exploration“ zu unterziehen.

Tumult, Gedränge, Irmgard Möller will eine Erklärung abgeben. Alle wollen sie hören, doch sie spricht ohne Mikrophon, leise, fast nur zu einer kleinen Gruppe ihrer Freunde. „Für mich geht es jetzt darum, für die Freiheit von den anderen aus unserem Zusammenhang zu kämpfen“, sagt sie langsam, ein bißchen undeutlich, das Gesicht halb von den langen grau- braunen Haaren verdeckt, „weil es nicht sein kann, daß alle so lange gefangen sein sollen wie ich. Und es kann auch nicht sein, daß die anderen so lange gefangen sind, bis sie so krank sind, daß der Staat die Verantwortung nicht mehr tragen kann, und sie deswegen raustut.“

Hanna Krabbe, seit fast 20 Jahren in Haft, bleibt als einzige RAF- Gefangene in der Lübecker JVA. Außer ihr sind noch sechs weitere ehemalige RAFler seit mehr als 15 Jahren in Haft. Irmgard Möller verläßt im Wagen ihrer Anwältin das Gefängnisgelände. Die UnterstützerInnen verabschieden sich mit Indianergeheul von ihr und Hanna Krabbe. Über die Mauer der JVA dringt ein Ton. Hanna Krabbe antwortet. Mit Indianergeheul.