Schlechte Noten für Bäume

Nach den Zahlen des „Waldzustandsberichts“ sind die Wälder unverändert krank / Umweltschützer halten die Erhebung für geschönt  ■ Von Nicola Liebert

Berlin (taz) – Der deutsche Wald stirbt zu 64 Prozent – genauso wie im vergangenen Jahr. Das ist das Ergebnis des gestern in Bonn veröffentlichten „Waldzustandsberichts“ – so heißt das Zahlenwerk seit 1991. Denn seit diesem Jahr gilt für die Regierung das Dahinsiechen der Bäume als normaler Zustand.

Besonders übel dran sind die Wälder der Statistik zufolge in Thüringen und Hessen, wo 78 beziehungsweise 75 Prozent der Bäume leichte bis deutliche Schäden aufweisen. In Mecklenburg- Vorpommern, das noch im vergangenen Jahr mit 87 Prozent geschädigten Bäumen die Leidensstatistik anführte, gesundeten die Bäume dagegen auf mysteriöse Weise, so daß jetzt nur noch 59 Prozent als krank eingestuft wurden. Und warum ist Hessen (75 Prozent kranke Bäume) so viel schlimmer dran als Sachsen (60 Prozent), das doch bekannt ist für das Waldsterben im Erzgebirge? Schummeln die für die Erhebung zuständigen Landesbehörden etwa?

Weniger Vieh auf der Weide nützt dem Wald

Zum Teil können Standortunterschiede die ungleiche Verteilung von Waldschäden erklären. Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel hat nur einen sandigen, nährstoffarmen Boden zu bieten. Trockenheit setzt dort den Bäumen stärker zu als anderswo. Mehr Regen hat schnell den umgekehrten Effekt. Im nordöstlichsten Bundesland hat auch der Niedergang der Landwirtschaft dem Wald gut getan. Denn weniger Vieh bedeutet weniger Gülle – Ammoniak aus der Gülle ist neben Ozon, Stickoxiden und Schwefeldioxid hauptschuldig am Waldsterben.

In Thüringen etwa wurden in vergangenen Jahrzehnten viele Fichten gepflanzt, die nicht dort heimisch und dem Standort schlecht angepaßt sind. Bei Schadstoffstreß machen sie daher schnell schlapp. In Sachsen dagegen sind tatsächlich schon große Waldflächen schlicht abgestorben. Wo kein Wald mehr ist, ist er auch nicht krank. Und wo die Berghänge mit neuen Bäumchen aufgeforstet wurden, sind die Schäden gering. Denn bei den Bäumen ist es wie bei den Menschen: je älter, desto kränker.

Dennoch ist es erstaunlich, daß Jahr für Jahr wieder regierungsamtlich vermeldet wird, daß der Wald sich zwar in einem Zustand befinde, der zwar übel, aber immerhin konstant sei. Daß die Forstbeamten, die alljährlich im August losgeschickt werden, um den Zustand der Bäume festzustellen, schummeln, das behaupten auch Kritiker nicht.

Wie licht sind die Baumkronen?

In Bayern zum Beispiel sind es 90 Förster, die nach einer mehrtägigen Schulung zusammen etwa 74.000 Bäume untersuchen müssen. Einzelne eigens markierte Bäume – ein Querschnitt der dort wachsenden Baumsorten und verschiedenen Altersstufen – werden durchs Fernglas betrachtet: Wie groß ist der Nadel- beziehungsweise Blattverlust, treten gelbliche Verfärbungen auf? Jeder Baum bekommt dann eine Note zwischen null (gesund) und vier (abgestorben). Überdies achten die Gutachter auf Insekten- und Pilzbefall, auf verformte oder zu kleine Blätter, auf vertrocknete Wipfel oder auch auf Sturmschäden. Diese Faktoren werden dann im Bericht eigens aufgeführt. Denn auch daß die Bäume für Schädlinge oder Windwurf sehr anfällig sind, ist eine Folge der vorhandenen Schwächung.

Die Schätzungen seien ziemlich akkurat, und angesichts der großen Zahl von untersuchten Bäumen würden Schwankungen ausgeglichen, betont Hans-Ulrich Sinner, Forstdirektor in der bayerischen Landesanstalt für Wald- und Forstwirtchaft. Das Problem liege ganz woanders, entgegnet Helmut Klein, der Forstexperte vom Bund Naturschutz in Bayern: Die Beurteilungskriterien seien so festgelegt, daß mit ihnen der Wald „gesundgelogen“ werde.

Das fange schon mit der Frage an, was passiert, wenn ein Stichprobenbaum in einem bewirtschafteten Wald gefällt wird, weil er krank ist. Dann wird bei der nächsten Erhebung ein Ersatzbaum gewählt – so wird ein toter Baum zu einem lebendigen. Orkane, wie sie in den letzten Jahren recht häufig waren, fegen insbesondere kranke Baumbestände hinweg – in der Schadensstatistik ergibt sich dadurch auf makabre Weise eine Besserung.

Die eigentliche Frage bei der Schadensfeststellung ist laut Klein: „Wann gilt ein Baum als gesund?“ Die Förster, die die Bäume begutachten, bekommen Bilder von gesunden Bäumen an die Hand, mit denen sie ihre Stichprobenbäume vergleichen sollen. Bloß, wenn praktisch alle Tannen oder Buchen in Deutschland schon etwas mitgenommen sind, muß ein einzelner Baum schon ziemlich krank sein, um noch aufzufallen.

Am Beispiel der Nadelbäume erläutert Klein, wie das Gesundreden durch Definitionen funktioniert. Eine kräftige Fichte kann, je nach Standort, bis zu 14 Nadeljahrgänge aufweisen. Amtlich festgelegt wurde jedoch, daß ein Baum mit fünf Nadeljahrgängen als gesund gilt. Wenn von diesen Nadeln weniger als 10 Prozent fehlen, wird der Baum immer noch in die Schadstufe null, also als gesund eingeordnet. „Ein kräftiger Gebirgsbaum, einstmals mit 13 Nadeljahrgängen, müßte also schon zwei Drittel seiner Nadeln verloren haben, bevor er überhaupt als leicht geschädigt eingestuft wird“, wettert Klein.

Auf die Einordnung der Bäume in bestimmte Schadenskategorien folgt die Interpretation. Andreas Krug, Forstfachmann des BUND, meint: „Da kann man nur vermuten, daß die Landesregierungen Druck machen.“ Das bayerische Kabinett soll, so sickerte durch, vor zwei Jahren den Schadensbericht des Freistaats mehrfach an die Landesforstverwaltung zurückverwiesen haben, mit der Anweisung, die Schädigungen sollten neu bewertet werden.

Daß der Wald stirbt, kann trotz aller Manipulationen dennoch niemand mehr leugnen. Innerhalb von 10 Jahren sei beispielsweise der Anteil der völlig gesunden Buchen von 40 auf nur mehr ein Prozent gefallen, sagt Johannes Eichhorn von der hessischen Forstlichen Versuchsanstalt. In Hessen galten 1984 lediglich neun Prozent der Bäume als deutlich geschädigt – in diesem Jahr sind es 38 Prozent.

Wenn schon das Waldsterben nicht mehr zu leugnen ist, dann verschiebt sich die Auseinandersetzung nun auf ein ideologisches Gebiet. Nicht Schadstoffe aus Kraftwerkschloten, Auspuffrohren und aus Kuhdärmen seien schuld, behaupten manche Politiker und Wissenschaftler zunehmend ungeniert. Trockenheit, Insektenbefall, allenfalls auch die verkehrte Art der Waldbewirtschaftung machten dem Wald den Garaus.

Alles fest im Griff: Das Wetter ist schuld

Wenn die Baumkronen lichter würden, lasse sich daraus noch lange kein Rückschluß auf die Einwirkung von Luftschadstoffen ziehen, ließ kürzlich etwa das Freiburger Institut für Waldwachstum verlauten. In ähnlicher Manier betonte das bayerische Landwirtschafts- und Forstministerium anläßlich des letztjährigen Schadensberichts, die jährlichen Schwankungen bei der Schadensstatistik seien im wesentlichen auf Witterungseinflüsse zurückzuführen. Daraus sei zu entnehmen, daß die bisherige Waldzustandserhebung im Grunde kaum Rückschlüsse auf den Einfluß der durch Menschen verursachten Luftverschmutzung zulasse. Und für das Wetter können wir ja schließlich nichts.

Forstminister Borchert fand gestern mahnende Worte: „Luftreinhaltung: Hier kann jeder einzelne Bürger etwas tun, sei es ei seiner Heizung, beim Auto oder bei sonstigen Konsumgewohnheiten.“ Ansonsten signalisiert er: Alles im Griff.

„Die bisher durchgeführten Maßnahmen zur Luftreinhaltung zeigen Erfolge“, steht im Waldzustandsbericht – nur die Bäume scheinen schwer von Begriff zu sein. Solange bekämpft man die Schäden weiter mit Kalk. Die Massentierhaltung stellt der Landwirtschaftsminister Borchert hingegen nicht in Frage, den Verkehr erst recht nicht.

In Sachsen erkannte man ganz spezielle Feinde des Waldes. Hier gelangte man zu dem Schluß, daß insbesondere die ganze Rauchgasfilterung den Wald krank macht. Der Leiter der sächsischen Landesanstalt für Forsten, Hubert Braun, erklärte, die Flugasche aus Kraftwerken enthalte durch verbesserte Filter deutlich weniger Kalzium als früher. Und jetzt fehle das Kalzium in den Wäldern, wo es bisher zur Neutralisierung des Sauren Regens diente.