„Verräter sind nirgends willkommen“

Im Kolonialkrieg kämpften sie auf seiten Frankreichs, die stolzen algerischen „Harkis“ / In Algerien sind sie als Verräter geächtet, in Frankreich sind ihre Kinder zu Sozialfällen degradiert  ■ Aus Amiens Dorothea Hahn

Als Ali Benmaiza 20 war, ging er zur Armee. Sein erster Krieg war der in Indochina, dann kämpfte er gegen die „Nationale Befreiungsfront“ in seiner algerischen Heimat. 1962, die Aufständischen hatten gerade die Kolonialmacht besiegt, ergatterte er einen der letzten Plätze auf dem Unterdeck der „Ville d'Alger“ und setzte nach Frankreich über. Seinen Militärpaß und die Medaille aus Saigon nahm er mit.

Den vergilbten Militärpaß hat der kleine Mann aufbewahrt. Er trägt ihn immer bei sich, er war stolz darauf, Soldat in einer französischen „Harkas-Einheit“ zu sein. „Damals“, so erinnert er sich in seinem gebrochenen Französisch, „hat General de Gaulle gesagt: Ihr seid meine Kinder, kommt zu uns nach Hause.“ Heute ist Ali Benmaiza 64, Rentner und Bewohner einer Siedlung an einer Schnellstraße am äußersten Rand der nordfranzösischen Stadt Amiens. Die Bezeichnung „Harki“ – vom arabischen Wort „Haraka“, Bewegung – blieb an ihm haften. Selbst seine in Frankreich geborenen Kinder werden so genannt. Ihre Generation lebt in dem gesellschaftlichen Abseits, das ihre Väter seit dem Ende des Kolonialkrieges kennen: keine Ausbildung, keine Arbeit, keine Integration.

Im vergangenen Monat hat es wieder Straßenschlachten in Ali Benmaizas Siedlung Briqueterie gegeben, in der rund dreitausend Harkis leben. In der Nacht zum 12. November hatten Polizisten der Sondereinheit CRS Tränengas in einen Partykeller geworfen, in dem zwanzig Mädchen und fünf Jungen einen 17. Geburtstag feierten. Während die ersten Autoreifen in Flammen aufgingen, berichteten drei Mädchen dem herbeigeeilten Bürgermeister von Amiens und dem Präfekten von dem Übergriff, der ihre großen Brüder auf den Plan gerufen hatte. Die CRS leugnete alles, und die Politiker mochten nicht glauben, was sie hörten. Erst drei Tage später zeigte ein Anwohner seine Videoaufnahmen von dem Ereignis. Es stellte sich heraus, daß die Mädchen die Wahrheit gesagt hatten.

Die Spuren der Straßenschlachten sind noch sichtbar. In einem Vorgarten picken die Hühner ihr Korn zwischen ausgebrannten Tränengaspatronen. „Das hat die Polizei mir hier reingeworfen“, sagt die stämmige Hausfrau, die barfuß über die winterkalten Steinplatten geht. Als die Barrikaden brannten, schloß sie ihre acht Kinder ein: „damit die sich da nicht einmischen und keinen Ärger mit der Polizei kriegen“. Nebenan in dem vierstöckigen Flachbau klaffen Löcher in den Fensterrahmen. Und über dem Eingang zu dem Jugendclub ist die Wand angekohlt.

„Die Idioten“, schimpft heute Vizebürgermeister Charly Giroudeau über die CRS-Truppe, die in jener Nacht die klare Weisung hatte, das von den Behörden als „heiß“ eingestufte Viertel Briqueterie großräumig zu meiden. Inzwischen läuft zwar eine polizeiinterne Untersuchung, doch die Einsatzverantwortlichen bestreiten nachdrücklich jedes Fehlverhalten. Erst vor ein paar Monaten war die nationale Sondereinsatzpolizei CRS nach Amiens gerufen worden. Sie sollte am Bahnhof und im Stadtzentrum für mehr Sicherheit der BürgerInnen sorgen. Inzwischen wollen die Uniformierten sich nicht mehr vom Präfekten reinreden lassen. „Wenn wir nicht zu den Brennpunkten dürfen, sind wir so machtlos wie die UNO in Sarajevo“, erklärt ein CRS-Sprecher.

Für die Harkis hat der Zwischenfall eine alte Erfahrung bestätigt: „Frankreich, die Mutter, verrät ihre Kinder.“ Ali Benmaiza und die anderen alten Männer kennen das seit 32 Jahren – seit ihrer Ankunft in der „Metropole“. Damals wurden sie in stacheldrahtumzäunte und von französischen Militärs bewachte Lager im Süden des Landes gesperrt. Später – oft erst nach Jahren – kamen sie in übers ganze Land verteilte Billigsiedlungen an den Stadträndern unter. „Das war ein Fehler“, gestehen heute die politisch Verantwortlichen ein, „man wollte sie nicht voneinander trennen, um ihre Eingewöhnung zu erleichtern. Tatsächlich aber schuf man Ghettos.“

Harkis, die es bis Frankreich schafften, waren bereits Überlebende. An die 200.000 einheimische Kräfte hatten in der Kolonialarmee gedient – nur 15.000 verhalf Frankreich zur Flucht. Den anderen wurde in Algerien kurzer Prozeß gemacht, viele wurden als „Verräter“ hingerichtet. Sie störten den Mythos von dem einigen Volk, das geschlossen gegen die Kolonialmacht kämpfte.

Ali Benmaiza hat sich nie beklagt. Nicht, als er das Reihenhaus in Amiens, das ihm ursprünglich als Entschädigung für seinen verlorenen Hof zugeteilt wurde, doch bezahlen mußte, nicht über die Arbeitslosigkeit und nicht über die mißtrauischen Blicke auf seine dunkle Haut. „Ich bin Franzose“, sagt er resigniert, „aber ernst genommen werde ich nur am Wahltag.“ Das Lesen und Schreiben hat er nicht gelernt und auch kein anderes Handwerk als den Krieg. Er verbringt seine Tage in dem schmucklosen Kellercafé, das die Behörden in der Siedlung Briqueterie eingerichtet haben. Auf den Betonstufen begrüßen sich die alten Männer mit Küssen auf die Wange, erzählen Witze auf arabisch und kauen Tabak wie ihre bäuerlichen Vorfahren am Nordrand der Sahara. An den Balkons ihrer Wohnungen haben sie Parabolantennen befestigt, um arabische Fernsehprogramme zu empfangen. Mit ihren algerischen Nachbarn, mit denen sie in Briqueterie Haus an Haus leben, haben sie keinen Kontakt. Das Mißtrauen aus dem Kolonialkrieg ist geblieben.

Der erste Aufschrei aus den Harki-Ghettos kam mit zwanzig Jahren Verspätung. Anfang der achtziger Jahre waren die in den Lagern aufgewachsenen Kinder groß genug geworden, um Gerechtigkeit zu fordern. „Unsere Väter haben für Frankreich gefoltert“, sagt ein junger Mann, der im November wieder nächtelang Barrikaden gebaut hat, „sie haben die Drecksarbeit gemacht. Dafür waren sie gut genug. Anschließend wollte Frankreich sie vergessen, wie den ganzen blutigen Algerienkrieg.“

Seither kommen in unregelmäßigen Abständen immer wieder Nachrichten über randalierende Jugendliche und demolierte Autos aus den Harki-Siedlungen Frankreichs. Ein 42jähriger in der Siedlung Briqueterie, der bei fast jedem Barrikadenbau dabei war, ist immer noch wutgeladen, wenn er an seine Kindheit in Frankreich denkt. „Ich werde nie vergessen, daß wir auf Stroh schlafen mußten“, sagt er, „die haben uns mit Brosamen abgespeist.“

Über hundert Jugendliche aus der Siedlung sitzen gegenwärtig in dem Gefängnis, das auf halber Strecke zur Innenstadt von Amiens liegt. Diebstahl, Überfälle, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Drogen... „Eine Schande ist das“, sagt der 34jährige Nouredine, „erst hat Frankreich unsere Väter verraten, dann uns.“

Wie ein Mal tragen die Kinder die Vergangenheit ihrer Väter mit sich herum. Sie haben algerische Namen und eine algerische Erziehung und sehen aus wie Algerier, aber sie sind keine Algerier. Wie Franzosen fühlen sie sich auch nicht. „Ich bin Algerierin“, sagt die 21jährige Tanzlehrerin Barta Hennaoui im „Haus der Kultur für alle“ in der Siedlung Briqueterie. Dann schiebt sie hinterher: „kulturell betrachtet“.

Anfang des Jahres kommt „Ahmed Boufftout“ in Paris auf die Bühne – es ist das erste Theaterstück über Harkis. Der Autor Jacoub Abdellatif hat es geschafft, das Ghetto zu verlassen. Aber auch er trägt noch das Mal der Väter. Sein Protagonist: ein junger Harki, der zwischen zwei Welten hin- und hergerissen ist, die beide nicht ihm gehören, der sich verraten und wie ein Hund behandelt fühlt. Im Gegensatz zu ihren Vätern können die jungen Harkis zwar in das Land ihrer Vorfahren reisen, aber eine Kindheit im Kreise der Großfamilie haben sie nie erlebt, die Besuche am Grab der Urahnen auch nicht. Statt dessen werden viele schon an der algerischen Grenze erkannt und beschimpft. „Wir sind die Kinder von Verrätern, und Verräter sind nirgends willkommen“, sagt ein Jugendlicher.

In Frankreich sind die Väter nie als Kriegsveteranen anerkannt worden. Harkis werden auch nicht von dem Ministerium betreut, das sich um „alte Kämpfer und Kriegsopfer“ kümmert, sondern von dem für „Repatriierte“. Schon zu Zeiten der Kolonie, als sie noch „Eingeborene“ genannt wurden, waren die Harkis nur Hilfssoldaten. Heute heißen sie in der verräterischen Sprache der Behörden „Repatriierte französische Moslems“ oder „Repatriierte nordafrikanischen Ursprungs“. Sie werden behandelt wie Sozialfälle und Bettler.

In Spezialabteilungen der Präfekturen können sie Unterstützungen für die Miete, die Arbeit und die Ausbildung beantragen. Eigens für sie wurde ein Sozialprogramm entworfen, das viel Neid in Frankreichs arabischen Vorstädten schuf. Aber auch das verhinderte nicht, daß die Jugendarbeitslosigkeit in manchen Harki-Siedlungen über 50 Prozent beträgt. Die materiellen Anerkennungen blieben weit hinter den Erwartungen der Harkis zurück: Mitte der achtziger Jahre kam eine Entschädigung von 60.000 Francs (ca. 18.000 Mark), und in diesem Sommer verfügte die Regierung eine weitere einmalige Zahlung in Höhe von 110.000 Francs (ca. 33.000 Mark) bei Eintritt ins Rentenalter. Alle französischen anwesenden Parteien stimmten dem Vorschlag zu, die KommunistInnen verließen für die Abstimmung den Sitzungssaal.

Im Rathaus von Amiens herrscht seit den Straßenschlachten vom November wieder Ratlosigkeit. Die Harkis, so heißt es hinter vorgehaltener Hand, haben ein Schwimmbad bekommen, sie haben Jugendzentren, Altentreffs, Geld – und trotzdem machen sie dauernd Ärger. Das schlechte Gewissen wegen des ungerechtfertigten Tränengaseinsatzes paart sich jetzt mit dem notorischen schlechten Gewissen wegen des Algerienkrieges, dessen lebendige Zeugen die alten Harkis sind. Beinahe täglich gehen Delegationen aus der Siedlung Briqueterie im Rathaus ein und aus.

Die alten Männer in der Siedlung Briqueterie verstehen ihre Kinder, wenn die auf der Straße wüten. Sie selbst aber schweigen. Die Jungen wiederum haben Verständnis für ihre Väter. Der 34jährige Nouredine: „Unsere Väter haben einen Kulturschock erlitten. Sie haben ihr Land verloren, ihre Kultur, ihre Sprache und ihre Ehre. Sie sind Analphabeten, und sie schämen sich. Wie sollten sie da für ihre Rechte kämpfen. Das ist unsere Aufgabe.“

Die stolzen Hilfssoldaten von einst, die einmal bereit waren, für Frankreich zu sterben, sind heute in der Metropole verloren. Ali Benmaiza, der seinen Militärpaß noch aufbewahrt, macht sich immerzu Sorgen um die Zukunft: „Ein Land, das schon die Eltern nicht respektiert, wird die Kinder erst recht nicht respektieren.“