Stoppt die „Kettenabschiebungen“

■ Dokumentation des Forderungskatalogs zur Asylpolitik, den das „Ständige Tribunal der Völker“ gestern verkündete

Um den im Urteil festgestellten Rechtsverletzungen abzuhelfen und die Rechte von Asylsuchenden und Flüchtlingen umfassend zu schützen, erhebt das Tribunal folgende Forderungen:

1. Fluchtursachen müssen ernsthaft bekämpft werden. Unabdingbar ist eine gerechte Weltwirtschaftsordnung, die die internationale soziale Ungleichheit überwindet. Die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den Regimen, die Menschenrechte verletzen, dürfen deren Regierungen nicht unterstützen; insbesondere dürfen an solche Staaten (wie den Iran, Irak, Türkei) keine Waffen geliefert werden.

2. Die Bedingungen, Regelungen und Verfahren, welche von den Staaten Europas zur Erteilung des Asylrechts erlassen werden, müssen zur strikten Einhaltung internationale Abkommen wie der Genfer Konvention und aller anderen internationalen Instrumente zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verpflichten. Dasselbe gilt für Regelungen und Verfahren im Rahmen der Europäischen Union und der EFTA.

3. Der Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention ist den (welt)politischen Entwicklungen anzupassen und muß ausgeweitet werden. Geschlechtsspezifische Fluchtgründe, Verfolgung wegen sexueller Orientierung müssen als Asylgründe gelten. Flucht vor nichtstaatlicher Verfolgung sowie aufgrund von Krieg und Bürgerkrieg müssen das Recht auf Asyl begründen. Flucht aufgrund von Armut, welche die in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung festgeschriebenen Mindeststandards eines menschenwürdigen Lebens verletzte, muß als Asylgrund anerkannt werden.

4. Deserteure und Kriegsdienstverweigerer aus Kriegs- oder Bürgerkriegsgebieten müssen Anspruch auf Asyl haben.

5. Die Länder Europas werden aufgefordert, Flüchtlinge und Asylsuchende vom Visumzwang zu befreien.

6. Beförderungsgesellschaften dürfen nicht mit Sanktionen bedroht werden, wenn sie Flüchtlinge ohne Visum transportieren.

7. Die sogenannte „Drittstaatenregelung“ muß aufgehoben werden, um die „Kettenabschiebungen“ zu beenden.

8. Jeder Staat hat für sorgfältige und faire Asylverfahren zu sorgen, mit dem Recht des Asylsuchenden auf Einspruch (Berufung), Überprüfung durch unabhängige Gerichte und der Garantie des vollständigen Rechtssschutzes. Die Asylsuchenden müssen ausreichend Zeit und Gelegenheit haben, ihre Einsprüche einzulegen. Diese müssen aufschiebende Wirkung haben.

9. Auch bei als „offensichtlich unbegründet“ eingestuften Asylgesuchen müssen die Asylsuchenden ein Recht auf Einreise und einen Zugang zum Asylverfahren haben; wie vom Exekutivkomitee des UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) empfohlen, dürfen lediglich die Rechtsmittelverfahren beschleunigt durchgeführt werden.

Asylgesuche, die als „offensichtlich begründet“ einzustufen sind, müssen in einem verkürzten Verfahren zur Asylgewährung führen.

10. Es ist zu gewährleisten, daß Asylsuchende über ihre Rechte in einer für sie verständlichen Sprache und Form unterrichtet werden. Es müssen ihnen Hilfsorganisationen genannt und Rechtsanwälte und Dolmetscher ihres Vertrauens zur Verfügung gestellt werden.

11. Asylverfahren müssen die besondere Situation von Frauen berücksichtigen und sicherstellen, daß Frauen ausschließlich von Frauen befragt werden.

12. Kein Staat darf Asylsuchende in Haftanstalten oder Lagern festhalten, außer in Fällen krimineller Vergehen. Minderjährige sind grundsätzlich nicht in Haft oder haftähnlichen Bedingungen festzuhalten. Insbesondere sind „exterritoriale Räume“ an den Ankunftsorten der Flüchtlinge und Asylsuchenden abzuschaffen.

13. Asylsuchende dürfen während des laufenden Asylverfahrens nicht abgeschoben werden. Es muß ihnen ein vorläufiges Aufenthaltsrecht für die Dauer des Verfahrens gewährt werden.

14. Ist ein Asylverfahren innerhalb eines Jahres nicht abgeschlossen, erhält der Asylsuchende aus humanitären Gründen ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht.

15. Zentralregierungen haben den Regionalbehörden und Gemeindeverwaltungen die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, um menschengerechte Wohnverhältnisse, Gesundheitsversorgung sowie Sprachkurse für Asylsuchende und Flüchtlinge zu ermöglichen.

16. Das Menschenrecht auf Familienleben und das Übereinkommen über die Rechte von Kindern (insbesondere das Recht auf den Besuch von Schulen und Kindergärten) müssen zu jeder Zeit gewährt werden. Während des Asylverfahrens ist das Recht auf Arbeit und Freizügigkeit sicherzustellen.

17. Die Anerkennung als Flüchtling muß automatisch das Wohn- und Arbeitsrecht im Gastland einschließen.

18. Asylsuchende, deren Anträge abgelehnt werden und die seit Jahren in der Illegalität leben und Opfer moderner Formen von Sklavenarbeit wurden, sind durch eine Amnestie zu legalisieren.

19. Die erkennungsdienstliche Behandlung von Flüchtlingen darf nicht vorgenommen werden.

20. Der Datenschutz ist sicherzustellen; insbesondere darf es keinen Datenaustausch mit Verfolgerstaaten geben.

21. Eine Gesamtreform des europäischen Asyl- und Ausländerrechts im Sinne einer Rückbesinnung auf die völkerrechtlichen und humanitären Verpflichtungen Europas, die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Rechtssicherheit, die uneingeschränkt auch für Flüchtlinge, Asylsuchende und Zuwanderer Gültigkeit haben müssen, ist überfällig.