Ein Rat der waidwunden Freunde

Ihre Schwäche stärkt das Europaparlament: Ohne Ideen, außer zum Geldausgeben, bleibt den Regierungschefs der EU-Staaten vom Essener Gipfel nur das Familienfoto als Zeugnis gemeinsamen Wirkens  ■ Von Alois Berger

Zu den schönen Seiten europäischer Gipfeltreffen zählen die Einblicke, wenn hohe Beamte aus der deutschen EU-Vertretung in Brüssel endlich einmal ihre Meinung sagen, die sie das ganze Jahr über diplomatisch pflichtbewußt zurückhalten. Der Essener Gipfel, meinte einer bissig, erfülle voll und ganz die niedrigen Erwartungen, die in den letzten fünf Monaten durch die dürftige deutsche Ratspräsidentschaft geweckt worden seien. Die ungewöhnliche Offenheit mag daran liegen, daß sich die deutsche Europamannschaft, die sonst in Brüssel die Ministerratssitzungen vorbereitet, bei Gipfeln regelmäßig von den Kanzlertreuen aus dem Feld gedrängt fühlt.

Da kommt es dann zu seltsamen Szenen wie im Westfalensaal, wo vorne Joachim Bitterlich aus dem Bonner Kanzleramt ein paar hundert Journalisten mit einer gähnend langweiligen Nacherzählung der Gipfelgespräche nervt – vor allem, weil er von den Themen, um die es geht, offensichtlich nur die Umrisse kennt –, während hinten am Ausgang ein Pressesprecher aus Brüssel einem Dutzend Journalisten im Flüsterton erzählen muß, was nun wirklich beschlossen wurde. Bespielsweise, daß Europol zwar künftig nicht mehr nur bei Drogenhandel, sondern auch bei Autoschmuggel und Schleuserkriminalität ermitteln soll, daß aber der Terrorismus vorerst ausgespart bleibt, weil da die nationalen Behörden besonders eifersüchtig auf ihre Kompetenzen achten.

Bei solchen Gelegenheiten ist es dann interessant, ein paar Meter weiter bei der französischen Pressekonferenz vorbeizuschauen: Dort wird zwar bestätigt, daß Mitterrand auf Drängen des Kanzlers versprochen hat, seinem Innenminister Pasqua Beine zu machen, damit die Europol-Konvention bis zum nächsten Gipfel endlich fertig wird. Aber hier hört man auch die Zweifler, die daran erinnern, daß sich an den Meinungsunterschieden nichts geändert hat. Der französische Innenminister fordert volle Informationsrechte für die eigene Polizei, was nicht nur sein deutscher Kollege ablehnt. Denn niemand wird eine heiße Geschichte an Europol erzählen, wenn er fürchten muß, daß danach ganz Europa Bescheid weiß.

In der britischen Pressekonferenz wiederum spielt Europol keine Rolle. Die Journalisten aus London interessiert viel brennender, was Major in der Gipfelrunde vorgeschlagen hat, um den Betrug in der EU endlich einzudämmen. Eine schärfere Betrugsbekämpfung gehört zu den Standardforderungen der euroskeptischen britischen Regierung. Diesmal hat sie allerdings besondere Schwierigkeiten zu erklären, warum sie kürzlich im Ministerrat zustimmte, der Betrugsabteilung in Brüssel einen Teil ihrer ohnehin knappen Mittel zu streichen.

So entsteht manchmal der Verdacht, daß jede Regierung auf einem anderen Gipfel ist. Im Umfeld der spanischen Delegation hat sich der Eindruck festgesetzt, daß es in Essen vor allem darum geht, die Gleichberechtigung der spanischen Fischfangflotte auf den Weltmeeren durchzusetzen.

Am meisten fällt auf, daß bei Gipfeln zunehmend innenpolitische Probleme anstehen. Eigentlich gehört es nur zu den Nebenaufgaben des Europäischen Rates, Machtworte zu sprechen, wo sich die Fachminister in den vergangenen Monaten verheddert haben. Aber Innenminister sind in allen Ländern traditionell eher konservative Geister, die meist felsenfest davon überzeugt sind, daß die eigene Art der Verbrechensbekämpfung die einzig richtige ist. Das macht es ihnen so schwer, mit anderen Innenministern zu Kompromissen zu kommen. Das Schengener Abkommen hängt seit vielen Jahren in der Luft, und Europol ist auch nicht zum erstenmal ein Gipfelthema.

Wenn sich die Staats- und Regierungschefs alle sechs Monate zum Abschluß einer Ratspräsidentschaft treffen, dann in erster Linie, um die Eckdaten der gemeinsamen Politik abzustecken, etwa in der Ostpolitik, wo sie sich in Essen darauf verständigen, den mittel- und osteuropäischen Ländern keine zu deutlichen Zusagen zu machen. Vor einer Osterweiterung müsse die EU selbst in Ordnung gebracht werden. Die Emotionen gehen diesmal nicht so hoch, weil alle Beteiligten längst auswendig herunterbeten können, wie die Fronten verteilt sind.

Nur bei den Briten ist nicht so ganz klar, ob sie die Osterweiterung lieber bremsen oder anschieben wollen, wie man bisher dachte. Jedenfalls hat Major die neue Mittelmeerpolitik brav mitgetragen, obwohl er weiß, daß damit der Preis in die Höhe getrieben wird. Spanien und Italien haben in Essen so nebenbei durchgesetzt, daß sich die Europäische Union im selben Maß um die südlichen Nachbarn von Marokko bis Israel kümmern muß wie um Polen oder Ungarn.

Jeder Ecu, der nach Osten geht, löst eine Ausgleichszahlung nach Süden aus. Mit der Essener Zustimmung zur Mittelmeerpolitik, meint ein britischer Journalist, hat sich die Wartezeit für die mittel- und osteuropäischen Länder quasi verdoppelt. Denn daß London eine Budgeterhöhung akzeptieren wird, ist schon deshalb nicht zu erwarten, weil sich Major noch gut erinnern kann, wie er vor wenigen Wochen wegen einer vergleichsweise lächerlichen Aufstockung des britischen EU-Beitrages zu Hause seine parlamentarische Mehrheit verlor.

Wer bei den Rechenspielen den Überblick verlor, der konnte sich auf dem Essener Grugagelände jederzeit an den lokalen Europa-Abgeordneten wenden, der ständig zwischen den Tischen in der Verpflegungshalle unterwegs war. Am knallroten Sakko und dem entschlossenen Kurzhaarschnitt leicht als moderner Sozialdemokrat zu erkennen, beantwortet Detlev Samland jede Frage mit einem Zahlenhagel, der ihn als Vorsitzenden des parlamentarischen Haushaltsausschusses ausweist. Vor 2010, so Samlands Resümee, gebe es keinen neuen EU-Beitritt.

Die Gipfel-Präsenz von Samland ist ein schönes Beispiel dafür, wie die Europaparlamentarier gelernt haben, in der Unübersichtlichkeit der EU beharrlich neues Terrain zu erobern. Für den offiziellen Teil des Gipfels hat von der ganzen Legislative nur der Parlamentspräsident eine Einladung. Das ist als reine Höflichkeit gedacht, die Staats- und Regierungschefs verstehen sich in der EU schließlich selbst als gesetzgebendes Organ.

Aber es fällt ihnen immer schwerer, das Parlament einfach zu übergehen. Mit großer Verve erzählt Samland in Essen jedem, der sich die Zeit nimmt, wie er kürzlich als Vorsitzender des Haushaltsausschusses die Finanzminister bei ihrem Portepee gepackt hat. Als Waigel der Parlamentsabordnung den EU-Haushalt erläuterte, so wie ihn der Ministerrat beschlossen hatte, da hätten die Finanzminister aus den anderen EU-Ländern nur stumm genickt. Erst als er jeden einzelnen daran erinnerte, schildert Samland, wie sie sich kurz vorher bitter bei ihm beklagt hätten, Waigel würde ihre Wünsche einfach übergehen, da sei die Diskussion lebhaft geworden und habe Möglichkeiten geboten, die Vorstellungen des Parlaments einzuflechten.

Solche Geschichten vom Hasen und vom Igel werden gerne gehört auf den Fluren der Grugahalle. Die Sympathien der Journalisten liegen deutlich näher beim Parlament als bei den Regierungen. Vielleicht aus natürlichem Mitgefühl mit dem Schwächeren, schließlich hat der Rat fast alles und das Parlament noch immer nicht besonders viel zu sagen. Vielleicht aber auch aus Enttäuschung über die dürftigen Nachrichten, die der Essener Gipfel produziert. Das Interessanteste sind deshalb die atmosphärischen Verschiebungen, von denen die spürbare Aufwertung des Europaparlaments die augenscheinlichste ist.

Zum ersten Mal taucht auf einem Gipfel-Familienfoto auch der Parlamentspräsident auf. Zum ersten Mal muß sein Redemanuskript nachher nicht wie sauer Bier angeboten werden, wie das bei seinem Vorgänger Egon Klepsch von der CDU der Fall war. Es liegt sicher auch am Auftreten des alerten Sozialdemokraten, daß die Meinung der Abgeordneten, die er aus Straßburg mitbringt und den Regierungschefs vorträgt, ernst genommen wird. Sein Satz, daß die Europäische Union zur Zeit nicht erweiterungsfähig ist und sich vor einer Aufnahme neuer Mitglieder grundlegend reformieren muß, zieht sich wie ein roter Faden durch die Gipfelbeschlüsse. Daß Kohl bei der abschließenden Pressekonferenz den Einfluß des sozialdemokratischen Parlamentspräsidenten ausdrücklich lobt, muß allerdings als Beschwichtigungsgeste gewertet werden. Denn Klaus Hänsch läßt keinen Zweifel, wie er sich die EU-Reformen vorstellt. Die Hälfte der Macht den Volksvertretern. Um keinen Raum für faule Kompromisse zu geben, werde das Parlament 1996 mit einer einzigen Forderung in die Regierungskonferenz gehen: Überall, wo die Agrar-, die Umwelt- oder die Wirtschaftsminister mit Mehrheit entscheiden, soll auch das Parlament mit einfacher Mehrheit abstimmen. Bisher gibt es ein Gestrüpp von Regelungen, in dem der Ministerrat immer wieder unbemerkt am Parlament vorbeiklettern kann.

Die vereinzelten Europa-Abgeordneten, die als Beobachter nach Essen gekommen waren, stellen ziemlich erstaunt fest, daß die Chancen noch nie so gut standen, der Macht der Räte entgegenzutreten. Die Regierenden sind kraftlos. Selbst Kohl, der als Gipfelmotto „realistischen Optimismus“ ausgegeben hat, versinkt angesichts der politischen und biologischen Hinfälligkeit seiner Freunde immer wieder in einem Meer von Melancholie. Aus Andeutungen ist zu erraten, daß Kohl innerlich bereits Abschied nimmt von Mitterrand und Papandreou, deren Alterswürde dem Gipfel etwas Erhabenes geben. Die meisten anderen, von Berlusconi, Major bis Kinkel, wirken ausgebrannt von ihrem politischen Überlebenskampf zu Hause. Reynolds, in Irland bereits abserviert und nur noch als Verwalter der Geschäfte anwesend, strahlt die Vitalität der Intensivstation aus. Und Kohls „Freund Jacques“, der als Kommissionspräsident im Januar abtritt, hatte ihm schon vor Wochen anvertraut, daß er bei den französischen Präsidentschaftswahlen nicht kandidieren, also nie wieder bei einem Gipfel dabeisein werde. Ein „Rat waidwunder Freunde“, lästert ein deutscher Diplomat, die in Ruhe gelassen werden wollen.

Statt Entscheidungen zu treffen und Pläne für die Zukunft auszuarbeiten, delegieren sie nur noch. Selten hat die Europäische Kommission so viele Aufträge für Studien und Weißbücher mit nach Brüssel genommen. Ein Weißbuch über weitere Schritte zur Osterweiterung, eine Machbarkeitsstudie über die Mittelmeerpolitik, gleich eine Reihe von Studien über die Bewältigung der Arbeitslosigkeit und einen Rat der Weisen zur Kontrolle der europäischen Wettbewerbsposition. Die Kommission, die eigentlich umsetzen soll, was die Regierungen beschließen, soll Konzepte für das weitere Zusammenwachsen in Europa entwerfen. Den Staats- und Regierungschefs fehlen die Ideen, sie fragen nur noch, was es kostet. 200 Millionen Mark zusätzlich für Nordirland haben sie in Essen beschlossen, 2,4 Milliarden für die Transeuropäischen Netze, 11 Milliarden für die Mittelmeerpolitik. Wo die Kraft fehlt, Prioritäten zu setzen, steigen die Ausgaben. Das Geld soll irgendwo im EU-Haushalt freigemacht werden. Doch der Haushalt untersteht dem Parlament, Budgetkontrolle ist der einzige Bereich, wo die Abgeordneten wirkliche Macht haben. Und es ist der Hebel, über den das Parlament schon lange mit den Regierungen ins Geschäft kommen will.