■ Es fehlt auch die Sprache für eine neue Reformpolitik
: Nicht-mehr und Noch-nicht

Was kennzeichnet die Lage fünf Jahre nach 1989, dem Zusammenbruch der Berliner Mauer? Ein Wort: Vakuum. Wir leben in einem Denk-Vakuum, einem Sprach-Vakuum, einem Macht- Vakuum, einem Politik-Vakuum. Hinter dem ganzen Stimmengewirr und Aktivitätsschaum breitet sich eine riesengroße Ratlosigkeit und Handlungslähmung aus. Es gibt so unendlich viel zu tun, also lassen wir es liegen.

Das macht die Lage nach 1989 so diffus, so doppelbödig: Auf der einen Seite scheint sich für den alten Westen nichts wesentlich verändert zu haben; zu gleicher Zeit ist fast alles vollständig anders geworden. Ein ganzes Wörterbuch des Politischen ist auf einen Schlag veraltet. Wir denken, reden und handeln in einer Phantom-Sprache. Wie jemand, der seinen Arm verloren hat, mit diesem aber weiter greift, so reden wir von „Nato“, „Europa“, „Deutschland“, „Westen“.

In diesem Zeitalter des Nicht- Mehr und Noch-Nicht, in dem das Alte in den Köpfen regiert, ist es unverzichtbar, in Schriften wie der von Jean-Marie Guéhenno „Das Ende der Demokratie“ die entstandene Lage neu und radikal auszuloten. Ich gehe noch einen Schritt weiter: es darf und muß intellektuell herausfordernd geirrt werden, um den alles dominierenden Irrtum der Kontinuität und Stabilität des Phantom-Westens aufzubrechen.

Guéhenno spitzt bekannte Argumente interessant zu und bündelt sie originell. Dabei begeht er einen Fehler, der auch mir leicht unterläuft: er sieht stärker, was sich auflöst und weniger das, was entsteht: „Das Ende der Demokratie“, „das Ende der Nationen“, „das Ende der Politik“.

Alle Welt redet von der Renaissance des Nationalen. Dabei sind es nur deren Kostüme und Masken, die, man muß wohl sagen, nach dem ökonomischen Ende des Nationalstaates wieder hervorgekramt und übergestülpt werden. Denn der bislang wenig begriffene Unterschied zum 19. Jahrhundert ist der, daß damals die Nationenbildung den ökonomischen Grundinteressen entsprach, während heute weltweite Wirtschaftsverflechtungen und Konzerne längst nationale Hoheiten in nationale Hohlheiten verwandelt haben.

Die Sozialkategorien der Industrieepoche – Klasse und Nationalstaat – sind zugleich zu groß und zu klein geworden. Individualisierung und Globalisierung verändern die Lebensformen von innen her. „Globalisierung“ meint nicht nur ein ökonomisches Phämomen; und es wäre auch falsch, es mit dem Aufkommen eines „Weltsystems“ oder einer „Weltgesellschaft“ gleichzusetzen. „Globalisierung“ meint: Handlungen über Distanzen hinweg: eine neuartige Ortlosigkeit, die durch globale Kommunikations- und Verkehrsnetze alltäglich wird. Was antwortet zum Beipiel ein Pendler auf die Frage, wo er lebt? Dort, wo er frühstückt, abends fernsieht und zumeist auch schläft – „und in den Nächten liegen sie abgestellt neben ihren Autos“ (Ivan Illich)? Oder dort, wo er arbeitet?

„Individualisierung“ meint Enttraditionalisierung, schließt aber auch das Gegenteil, die Erfindung von Traditionen ein. Die Idylle – Omas Apfelkuchen, Vergißmeinnicht und Kommunitarismus – hat Hochkonjunktur.

In der nachtraditionalen, globalen Ordnung, in der wir leben, können sich traditionale, zum Beispiel religiöse Deutungssysteme nicht länger abschließen, prallen aufeinander, geraten in Konkurrenz und Konflikt zueinander und damit unter Rechtfertigungsdruck. In diesem Sinne ist auch der Fundamentalismus in seinen außereuropäischen und europäischen Spielarten (und zwar nicht nur der religiöse, auch der politische, nationale, der feministische und der Fundamentalismus der Männer) eine im wahrsten Sinne des Wortes „Reaktion“ auf beides: Individualisierung und Globalisierung alltäglicher Lebensformen.

In diesen Tagen las ich wieder einmal in dem Buch von Alexis de Tocqueville „Über die Demokratie in Amerika“. In ihm schreibt er im Jahre 1848 den schockierend aktuellen Satz: „Die Demokratie aufhalten wollen, hieße gegen Gott selbst kämpfen.“ Auch das könnte eine Schlußfolgerung aus dem Wunderjahr 1989 sein, das so schnell im Nebel von Unsicherheit und Angst untergegangen ist. Tocqueville, der Aristokrat, ist mit kritischer Wehmut im Blick überwältigt von der Bewegung zur Gleichheit der Menschen, die er durch die Jahrhunderte hindurch Gestalt gewinnen sieht, und die in diesem Jahrhundert auch ihre barbarischen Negationen – Faschismus und Kommunismus – hinweggefegt hat.

Dieses Gesetz der Gleichheit meint weder die Überwindung sozialer Hierarchien noch das Ende der Vielfalt und Verschiedenheit der Menschen. Gleichheit im Sinne Tocquevilles meint Gleichartigkeit, das heißt das Ende der Andersartigkeit des anderen. Ontologisierungen der Differenz werden die Grundlagen entzogen. Gleichartigkeit konkretisiert sich in der prinzipiellen, denkbaren und realen Austauschbarkeit der Rollen und Lagen; in Rechten, Grundrechten, politischen Rechten, sozialen Rechten. Diese ermöglichen Vielfalt durch Gleichartigkeit, also Individualisierung.

Das Irritierende ist nun, daß diese Bewegung zur Gleichartigkeit inzwischen die Grenzen überrollt hat, die sie (bislang) ermöglicht haben: Nation, Natur, Gott. Mit anderen Worten: die Gleichartigkeit der Natur (ökologische Frage) und die Gleichartigkeit Gottes (Ethik der Selbstbegrenzung) stellen Herausforderungen dar, für die bislang niemand (angemessene) Antworten hat. In Umkehrung einer Formulierung Tocquevilles kann man das vor uns liegende demokratische Zeitalter als dasjenige kennzeichnen, das den Menschen auferlegt, alles zu begreifen, und sie nötigt, alles zu wagen. Auch das Experiment der Selbstreform der Moderne, die Reformation der Demokratie über die Schranken des Nationalstaates und der Natur hinaus.

Doch überall werden die alten Leerformeln wiederbelebt – Wirtschaftswachstum, Arbeitsplatzsicherheit, technischer Fortschritt, nun auch der Ruf nach dem „starken Staat“. Deshalb ist es notwendig, überhaupt erst einmal die Sprache für eine Reformpolitik zu öffnen. Das Vakuum, das Neuland, in dem wir uns nach dem Zusammenbruch der Ost-West-Ordnung befinden, muß mit neuen Kategorien und Theorien ausgelotet werden, um es gestaltbar zu machen. Wir bewegen uns sozusagen im Übergang vom festen zum flüssigen Zustand des Politischen. Dabei sind immer zwei Reaktionen möglich: die Angst vor dem Verlust des Festen und die Politiklust auf die Verflüssigung. Davon ist allerdings wenig zu spüren.

Dieses ist kein idealistisches Keep-smiling. Wenn es nicht gelingt, die Menschen im Aufbruch zu neuen Ufern zu begeistern, mündet die ihre eigenen Grundlagen aufhebende Moderne möglicherweise ein in milde oder militante Formen des Neofaschismus, die sich ja nicht nur im Zukunftsszenario Guéhennos ankündigen. Ulrich Beck

Soziologieprofessor in München; zuletzt erschien „Riskante Freiheiten“ (1994)