Völlers Leere und das kultivierte Ungeschick

Annäherung an eine Ästhetik des Phänomens Fußball in elf Prinzipien / Fußball als Abstraktion von Politik, Intellekt und Gesellschaft  ■ Von Joachim Frisch

Die Faszination des Fußballspiels ist fern aller politischen, emotionalen und kulturellen Projektionen zu suchen, fern von Analogien und Interpretationen: im Bewegungsablauf und in der Raumaufteilung auf dem Platz, in der Spannung zwischen einfachstem Spiel und seiner Begrenzung durch Regeln. Sein Reiz beruht auf der Abstraktion von den gesellschaftlichen Verhältnissen, vom Ernst des Lebens, nicht in ihren fadenscheinigen Entsprechungen. Doch weist der Fußball damit nicht den Weg zu einer Utopie jenseits aller Vergesellschaftung. Das wäre der Weg zurück in die Barbarei. Er spendet allenfalls Trost angesichts der gesellschaftlichen Zumutungen. Darin ist er der Kunst und der Literatur nahe, der Politik aber fern. Fußball hat viel mit Intuition und mit Instinkt zu tun, nichts mit Intelligenz und Gesinnung. Er lebt von der Spannung zwischen Zivilisation und ungezügelter Natur, von Regel und Anarchie. Die Reflexion dieses Zusammenhangs im Spiel aber ist dessen Zerstörung.

Wenn nun Fußball Abstraktion von Intellekt, von Politik und Gesellschaft ist, wenn Fußball Kunst ist, so ist seinem Geheimnis nur mit einer Ästhetik näherzukommen. Diese ist bisher nicht geschrieben worden. Ror Wolf hat sich poetisch dem rohen Sein des Fußballs gewidmet und seine Mythen vorgeführt. Er ist damit dem Fußball gerechter geworden als alle angestrengten gesellschaftlichen Analysen. An dieser Poesie des Fußballs muß sich eine Ästhetik des Fußballs orientieren. Ihre Aufgabe muß es sein, den Fußball von allen Instrumentalisierungen befreit zu begreifen, auch von denen der Guten und Gerechten. Sie muß eine Kritik der Entfremdung des Fußballs sein, seiner Entfremdung durch Kommerz, durch elektronische Medien, durch alle Ansinnen von Gesinnungen.

Vor einer Ästhetik muß jedoch eine Phänomenologie des Fußballs stehen, die hinter dem Schleier aus Mythen das einfache Prinzip freilegt, das den Fußball zum Faszinosum (P. Jenninger) über alle kulturellen, religiösen und politischen Grenzen hinweg werden läßt. Die Phänomenologie des Fußballs wird zwar das Geheimnis der Faszination nie ganz lüften können, doch sie kann seine Spur aufnehmen. Diese Annäherung zielt nicht auf Entzauberung, sondern auf Verdoppelung der Lust am Fußball durch die Lust an der Erkenntnis über ihn. Ein Fußballspiel ist ein Fest der Differenz ewig wiederkehrender Muster. Jedem Steilpaß geht ein Steilpaß voraus, doch kein Steilpaß ist jemals mit einem früheren Steilpaß identisch.

Seine unvergleichliche Mischung aus Kraft, Geschick und Ungeschick verdankt der Fußball der elementarsten, gleichsam banalen und genialen Regel des Fußballs, dem Verbot des Handspiels und aller Hilfsmittel. Es gibt keine Sicherheit des Ballbesitzes, nicht mal für den Bruchteil einer Sekunde. Der flüchtige Augenblick der Ballberührung mit dem Fuß oder Kopf dauert nicht länger als ein Wimpernschlag. Weil die Hand, das Organ motorischen Geschicks, aus dem Spiel bleibt, wird die ganze Geschicklichkeit des Spiels dem ungeschickten Fuß aufgebürdet. Stets lauert das Versagen an der Grenze der eigenen Beweglichkeit. Brillant ist nur der Spieler, der das Risiko des Fehlers in Kauf nimmt, der die Grenzen der Beherrschbarkeit des Balles ertastet und für sich verschiebt. Champions-League-Spiele sind langweiliger als so manches C-Klassen-Spiel, wenn diese Grenze der Beherrschbarkeit nicht angetastet wird. Die Balance von Kraft, Schnelligkeit, Eleganz und Geschick entfaltet ihre Faszination erst mit dem Risiko des Mißlingens.

Diesen einfachen Grundsatz des Fußballspiels wollen wir das Prinzip des kultivierten Ungeschicks nennen. Die permanente Angst vor dem Ballverlust durch die Kombination der Flüchtigkeit des Ballkontaktes (zweites Prinzip) mit der permanenten Bedrohung durch den Gegner (drittes Prinzip) gibt dem Fußball seine Rasanz. Daß diese nicht zu Hektik ausartet, ist dem Raum zu verdanken. Gut 7.000 Quadratmeter stehen den 22 Spielern zur Verfügung, um Wege zum Tor des Gegners zu finden.

Daraus ergibt sich eine Unmenge möglicher Kombinationen in jeder Situation und somit das vierte Prinzip: die Unendlichkeit der Handlungsalternativen. Raum, Gegner und der Mangel an Kondition zwingen zur Taktik, zur Suche nach der idealen Raumaufteilung, nach dem rationellsten Spiel. Doch die rationale Kalkulation in der durch den drohenden Gegner eng begrenzten Zeit überfordert den menschlichen Intellekt maßlos. Gerade über den Intellekt gesteuertes Spiel ist schematisch, taktisch und langweilig, und es ist allein auf Athletik angewiesen. Erst was über diese intellektuell faßbare Dimension hinausgeht, fasziniert.

Athletik ist eine notwendige Basis für Spitzenfußball, längst keine hinreichende Qualität. Pure Athleten sind auf dem Fußballplatz oft Dilettanten, genauso wie Intellektuelle – letztere nicht deshalb, weil Fußball zu primitiv wäre, sondern deshalb, weil Fußball für den menschlichen Intellekt zu komplex, zu schnell ist. Die Eigenschaften des begnadeten Fußballspielers sind Instinkt und Intuition. Geniale Fußballer waren und sind immer Intuitionsfußballer. Und dies ist der Grund, weshalb Fußball in die Sphäre der Kunst als Annäherung an das Unsagbare gehört. Es ist die metaphysische Dimension des Fußballs. Intuition ist das Gegenteil des Geistes, aber gleichzeitig dessen Ursprung. Das sagten Nietzsche und Adorno. Im Fußballspiel entsteht Geist aus Instinkt, ein Geist jedoch, der anderer Natur ist als der Intellekt. Der Geist des Fußballs hat seine eigene Schönheit, seine eigene Kraft und seine eigene Würde. Zu verstehen ist er deshalb nur durch eine eigene Ästhetik. Er ist Geist im Rohzustand, noch nicht durch instrumentelle Vernunft zugerichtet. Daher rührt seine Unvereinbarkeit mit der Politik, denn diese ist ein triviales Produkt des Geistes. So lautet denn das fünfte Prinzip: die Dominanz der Intuition.

Angesichts dieser künstlerischen Dignität des Fußballs wirken alle Versuche einer pseudowissenschaftlichen Quantifizierung fußballerischen Könnens kreuzdumm. Die Anzahl der Ballkontakte, der gewonnenen Zweikämpfe, der heruntergespulten Kilometer oder der Schüsse aufs Tor sagen nichts über die Qualität eines Spielers, schon gar nichts über die Qualität eines Spiels aus. Ein Spieler wie Romario kann ein Spiel durch einen einzigen gewonnenen Zweikampf oder einen einzigen Schuß aufs Tor entscheiden. Maradona konnte dies durch einen einzigen Paß.

Diese Spannung von höchster Kunst und kalter Berechenbarkeit verweist auf das sechste Prinzip: die Dialektik von Quantität und Qualität. Der quantitative Charakter der Entscheidung erlaubt optimale Klarheit (im Gegensatz zu Sportarten mit erklärt künstlerischem Anspruch wie dem Eiskunstlauf). Tor oder nicht Tor, dazwischen ist nichts, kein Drittes, kein Ausgeschlossenes, kein Nicht-Identisches. Welch krasser Gegensatz zur Qualität des Spiels, die logisch, statistisch, quantitaiv nicht annähernd zu erfassen ist. Sie ist geradezu die Verkörperung des Nicht-Identischen. Diese enorme Spannung zwischen der gnadenlosen Quantität der Entscheidung und dem zutiefst qualitativen Charakter des Spiels verleiht dem Fußball eine unbeschreibliche Dramatik.

Welcher Anhänger des Fußballs ist nicht schon an der Ungerechtigkeit eines schnöden Ergebnisses verzweifelt, das dem künstlerischen Wert der gezeigten Leistungen Hohn sprach? Möglich wird diese Dramatik nicht etwa durch die Raffinesse eines filigranen Regelwerks, sondern durch das krasse Gegenteil: die Einfachheit der Regeln und des Spiels (siebtes Prinzip). Amerikanische Journalisten überboten sich bei der Weltmeisterschaft gegenseitig darin, Hohn und Spott über die Primitivität des Fußballs auszugießen. Sie wunderten sich darüber, daß man mit über zwölf Jahren noch derart einfache und kindische Spiele betreiben könne. Nun sind die USA das einzige bedeutende Land der Welt, in dem Fußball völlig bedeutungslos ist. Sie sind auch das Land, in dem das Niveau der Massenkultur der Phantasie Zwölfjähriger entspricht. Man betrachte nur Hollywood nach Cary Grant. Auf diesem Niveau ist die dialektische Dimension zwischen einfachem Spiel und Regel noch nicht zu begreifen. Wir wissen, daß der Spieler sie nicht begreifen muß, doch dem über Fußball Urteilendem sollte klar sein, daß gerade die Einfachheit der Regeln Voraussetzung für die kreative Entfaltung des Spiels ist.

Indem man sich auf den einfachst möglichen Nenner einigt – der Ball muß ohne Benutzung der Hände ins Tor, egal wie –, gewährt man dem Spieler und der Mannschaft ein größtmögliches Maß an kreativer Entfaltung. Die Regel ist in diesem Sinn weniger konstitutiv als defensiv, ja negativ: Sie unterbindet, was den Fußball komplizieren und damit seine Entfaltung hemmen könnte. Sie ist das Gegenteil der konstitutiven Regel, beispielsweise im Baseball. Dort determiniert die Regel den Charakter des Spiels, im Fußball ermöglicht sie seine kreative Entfaltung durch das Prinzip Nummer acht der Dialektik von Regel und Kreativität.

Getreten werden soll der Ball, und nur der Ball. Die Bewegungsfreiheit muß erhalten bleiben, ohne daß die Bewegungsfreiheit des Gegners über ein das gemeinsame Interesse am Spiel betreffendes Maß hinaus beeinträchtigt wird. Das einfache Regelwerk stellt die optimale Form, den optimalen Rahmen zur Verfügung, der die Möglichkeit zur optimalen Entfaltung der Fähigkeiten von Spieler und Mannschaft gewährleistet. Dieser Minimalismus der Regulierung entspricht dem Ideal eines nicht autoritären, formalen und modernen Rechtsprinzips, eine libertäre Interpretation des Kantschen Kategorischen Imperativs. Der Minimalismus der Regeln gibt dem Fußball das potentiell Anarchische, das linke Schwärmer zu Analogieschlüssen verführt. Tatsächlich ist der Fußball ja subversiv, nur nicht in irgendeinem politischen Sinn, sondern in einem fundamentaleren, jenseits von Intellekt und Politik. Er ist subversiv gegen in allen Kulturen und Ideologien verbreitete Alltagsmythen, weil er sich immer wieder gängigen Mustern widersetzt.

Die Stars des Fußballs sind nicht die idealen, schnellen Supermänner, schon gar nicht die intelligenten Helden der Revolution, sondern es sind nicht selten komische Vögel, Typen wie „Ente“ Lippens, Gerd Müller oder Garrincha. Über Garrincha schreibt das „Fußball- Lexikon“: „Rechtsaußen; Dribbelphänomen; besaß ,ideale‘ Fußballerbeine: wies ein linkes X-Bein, sechs Zentimeter kürzer als das rechte O-Bein auf (daher ,Garrincha‘, ein brasilianischer Paradiesvogel mit schaukelndem Gang).“ Ausgerechnet Garrinchas Beine als die „idealen Fußballerbeine“, das ist die pure Subversion des Fußballs (neuntes Prinzip) gegen das Ideal des perfekten Körpers.

Seit den Zeiten Günter Netzers besagt ein ungeschriebenes Gesetz, daß das Trikot mit der Nummer Zehn dem Spielmacher vorbehalten sei. Hier bleibt die Nummer Zehn dem ökonomischen Prinzip vorbehalten, das den Fußball zum attraktivsten aller Spiele macht: der Knappheit des Gutes Tor.

Die Möglichkeit, daß ein Ereignis ausbleiben kann, macht sein Eintreten erst zur Attraktion. Gegen das Tor im Fußball ist ein Korb im Basketball oder ein Tor im Handball schnöde Selbstverständlichkeit. Freilich ist ein Fußballspiel mit vielen Toren meistens eine erfreuliche Angelegenheit, aber nur deshalb, weil dies nicht die Regel ist, sondern ihre Überschreitung. Denn gerade die Seltenheit des Eintritts des entscheidenden Ereignisses, des Tores, läßt dies zum Sensationserlebnis werden, ja zum Fetisch.

In manchen Spielen spürt man eine Phase überhöhter Erregung. Dann sagen die Reporter, ein Tor läge in der Luft. Fällt es tatsächlich, löst sich die nahezu greifbare Spannung in orgasmischen Dimensionen auf, beim Torschützen, bei Mitspielern, bei den Fans. Für Sekunden sind Raum und Zeit verschmolzen, ist die Schwere des Daseins in grenzenloser Leichtigkeit aufgehoben, in der totalen Ekstase. Rudi Völler beschreibt das Gefühl nach dem erfolgreichen Torschuß als völlige Leere im Kopf. Es ist die Entfesselung des Ichs von den Fesseln des Daseins in der Welt, von der trägen Körperlichkeit. Völlers Leere ist die gleiche, als die der Mönch Adson sich angesichts seines einzigen und deshalb einzigartigen Geschlechtsverkehrs noch am Ende seines langen Lebens erinnert: „Es ist, als ob man verginge, als ob man schwerelos würde und nichts mehr spürte vom niederdrückenden Erdengewicht des Körpers...“ (Umberto Eco: „Der Name der Rose“)

Völlers Leere ist das Nirvana, der Zustand des Einsseins mit dem Kosmos, nach dem Philosophen, Asketen, Gurus und Yogis seit Jahrhunderten suchen. Ist nicht manches entscheidende Tor eine Spur befreiender als ein gewöhnlicher Geschlechtsakt? Ich behaupte, daß dem Fußball huldigende Männer öfter beim Orgasmus an Fußball denken als im Augenblick eines Tores ihrer Mannschaft an einen Orgasmus. Wer's nicht glaubt, hat vom Fußball nichts begriffen, oder er ist ein Mönch.

Das elfte Prinzip aber lautet: Fußball ist Trost.