Die Zukunft des Lumpenproletariats

■ Der Zukunftsforscher Roland Gieske über Trends und die Astrologie, Domestiken und Leistungsträger, Pillen und Lebensmittelzusätze, die Selbstläufer-Ökologie, digitale Demokratien und die Beschleunigung..

Er erforscht Zukunftsentwürfe und zeigt der Wirtschaft auf, wo's langgehen könnte. Mit seinem Bremer Trendbüro „Iceberg“ beobachtet Roland Gieske für sieben Industriezweige die wichtigsten Entwicklungen, erläutert Konzernen der Automobil- oder Pharmaindustrie die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung oder erstellt dem Bankgewerbe Trendprofile, nach denen sie abschätzen können, welche Optionen und Risiken sie in Zukunft erwarten.

taz: Herr Gieske, was kommt 1995 auf uns zu?

Roland Gieske: Als Trendforscher kann ich nicht die Zukunft vorhersagen. Das mag in der Astrologie gelingen, da sie persönliche Aussagen macht, die jeder für sich interpretieren kann. Im übrigen habe ich vor der Astrologie insofern Respekt, als sie sich darum bemüht, aus Naturzyklen etwas herauszuinterpretieren.

Und das machen Sie auch?

Im Grunde genommen ja. Wenn Sie sich Wirtschaftstheorien anschauen, gibt es Ähnlichkeiten – zum Beispiel bei dem Kondratieff- Zyklus, einem mathematisch berechneten Konjunkturzyklus, der besagt, daß alle 70 Jahre was Besonderes in der Wirtschaft passiert. Im Grunde genommen ist die Astrologie nichts anderes als ein solches System, nur mit einer völlig anderen Zielsetzung.

Wie erforschen Sie alternative Zukünfte?

Beispielsweise geht es darum, innerhalb eines Kanals von Möglichkeiten, für die es heute schon Indikatoren gibt, Trends zu entdecken. Das Spektrum reicht im Bereich der Pharmaindustrie von „Pharma, nein danke“ bis hin zu „High Tech/Pharma, ja bitte!“. Liege ich im OP und verblute gerade, dann interessiert mich die alternative und weiche Medizin überhaupt nicht. Dann brauche ich High-Tech-Medizin.

Wie sieht die Zukunft der Pharmaindustrie aus?

Das ist business as aspected. Es geht wie bisher ums Pillen- Pressen. Aber dabei wird es eine starke Differenzierung der Produkte geben. Sie werden immer stärker mit dem normalen Food-Bereich verschmelzen.

Das heißt, ich esse zukünftig Medikamente im Brot mit?

Genau. Nicht irgend welche Medikamente, es geht um Zusätze, sogenannte enrichments. „Gatorade“, dieser Sportlerdrink, ist zum Beispiel ein typisches Getränk dieser Kategorie. Da verschwimmen heute schon die Grenzen zwischen der schlichten Nahrungsaufnahme und dem Versuch, die Leistung des eigenen Körpers zu verbessern. Diesen Bereich wird die Pharmaindustrie ausbauen.

Wie steht es zukünftig um den Arbeitsmarkt?

Einer der großen Metatrends ist die Polarisierung, also das Auseinandertreiben zu immer größeren Extremen. Es gibt mittlerweile schon gesellschaftliche Leistungsträger, die einen Ring von Domestiken um sich haben, die ihnen zuarbeiten. Das gibt es in den Unternehmen, aber auch im privaten Bereich. Spätestens wenn Sie zwei Kinder haben, schaffen Sie sich diese Domestiken an, Sie haben dann eine Leihoma, bringen die Wäsche in eine Wäscherei... Die Polarisierung zwischen den „echten“ Leistungsträgern und denen, die die Zulieferjobs machen, wird in hohem Maße zunehmen. Der langfristige Trend ist viel dramatischer, als man uns heute glauben macht: Früher gab es die Bourgeoisie, das Proletariat und das Lumpenproletariat. Zukünftig gibt es wieder eine Entsprechung dieser gesellschaftlichen Polarisierung.

Wie steht es zukünftig um die sozialen Bewegungen, beispielsweise die Ökologie- oder die Frauenbewegung? In den 70er und 80er Jahren haben sie viel bewegt. Mittlerweile scheinen sie kaum noch eine Rolle zu spielen.

Die Umweltbewegung hat letztlich erreicht, was sie erreichen wollte. Ökobilanzen werden in den großen Unternehmen Standard. Öko ist zwar auf der einen Seite immer noch Aufkleber-Business, andererseits sind davon so viele Menschen überzeugt, daß sie darüber schon reflexartig nachdenken. Die Umweltökologie wird daher zum Selbstläufer.

Das heißt, Ihrer Meinung nach haben sich die sozialen Bewegungen erledigt?

Ich denke, ein richtiger Umbruch kommt nicht mehr aus einer Generation heraus, die irgendwo hinter uns hoffnungsvoll heranreift und dann eines Tages endlich wieder alles auf den Kopf stellt. Dafür ist das System mittlerweile zu kompliziert. Wenn ich zukünftig fundamentale Änderungen erreichen will, funktioniert das höchstens über eine digitale Demokratie. Per Internet kommunizieren heute schon 25 Millionen Menschen miteinander. Hauptsächlich in Nordamerika gehen heute täglich 26.000 Menschen auf das bulletin board „go catholic“ und tauschen Nachrichten mit anderen Katholiken aus oder holen sich eine Tagespredigt ab. Wenn sich dieses System weiter entwickelt, kann ich über diesen technischen Weg wirklich Millionen von Menschen mobilisieren. Das wäre für mich die Plattform für dramatische gesellschaftliche Veränderungen.

Egal ob es sich um demokratische oder undemokratische Veränderungen handelt?

Genau, es gäbe nur eine technische Plattform. In dieser Form der Vernetzung, jeder mit jedem, hätte ich natürlich die Möglichkeit, mich politisch zu profilieren. Im Sinne einer Schweizer Kantonsabstimmung könnten die Menschen dann auf dem digitalen Marktplatz zusammenkommen, um abzustimmen. Solche digitalen vote-Systeme sind im Kommen, das sehe ich ganz klar. Das Ganze führt natürlich zu einer Beschleunigung und auch zu einer Hysterisierung der Politik.

Was bedeutet das dann für das Individuum?

Natürlich kommt es zu einer zunehmenden Beschleunigung unseres Lebens, einem Ausoptimieren von Zeit- und Ruhezonen. Früher nahm sich die Wählscheibe beim Telefon die Zeit, nach dem Wählen langsam zurückzulaufen. Heute drücken Sie auf Ihre ISDN- Anlage, und der andere Gesprächspartner ist sofort da. Das Leben wird für den einzelnen immer komplizierter, weil jeder mehr Optionen hat. Früher kämpfte man gegen die Beschränkung. Heute muß man sich angesichts der Masse von Optionen, die scheinbar alle möglich sind, fragen: Was will ich eigentlich wirklich? Interview: Karin Flothmann