„In fünf Minuten so ein Gemetzel“

Im sächsischen Riesa ersticht ein 17jähriger Linker einen rechten Jugendlichen. Notwehr? Die Jugendszene in Riesa wird von der Stadt gut betreut, ist aber stark polarisiert  ■ Aus Riesa Bascha Mika

Samstag im Morgengrauen. Nino betritt „Müllers Grillbar“. Dort trifft er Waltze. Ergebnis: ein Toter, drei Schwerverletzte. Waltze war 17 und rechts. Jetzt ist er tot. Nino ist 17 und links. Jetzt ist er ein Totschläger oder Schlimmeres.

Was geschah in Riesa? Täter und Opfer kommen aus dieser sächsischen Kleinstadt, die viel Geld in die Betreuung von Jugendlichen steckt. Doch die Szene ist polarisiert. Jugendhäuser, Kneipen und Discos sind zwischen Linken und Rechten aufgeteilt, die Reviere waren abgesteckt. Bis Nino in punkigem Outfit die „Grillbar“ betrat. Revierverletzung mit Todesfolge?

Die offizielle Version: „Die Staatsanwaltschaft Dresden und das Landeskriminalamt Sachsen geben bekannt: Am Samstag, 7.1.95 gegen 04.30 Uhr, kam es in einer Gaststätte in Riesa zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen einem jungen Paar und etwa 10 rechtsorientierten Tätern. Im Verlauf dieser Auseinandersetzung erlitt einer der Angreifer tödliche Verletzungen.

Tatablauf: Das junge Paar befand sich bereits in der Gaststätte, als etwa zehn der rechten Szene zuzurechnende Personen die Gaststätte betraten. Einer aus dieser Gruppe provozierte den 17jährigen und dessen 18jährige Freundin. Als zu einem späteren Zeitpunkt Bedrohungen ausgesprochen wurden, verließen beide die Gaststätte. Vor der Tür wurde der Jugendliche angegriffen und mehrfach geschlagen. Einer der Angreifer, ein ebenfalls 17jähriger Jugendlicher aus Riesa, verstarb noch am Tatort an einer Stichverletzung; zwei weitere erlitten schwere Schnitt- bzw. Stichverletzungen im Bauch- und Brustbereich. Der Angegriffene muß ebenfalls mit erheblichen Verletzungen stationär behandelt werden.“

Die rechte Version: „Das ist doch völliger Schwachsinn, was die Staatsanwaltschaft erzählt.“Als Quartett hocken sie Sonntag abend in der Disco zur Linde. Gonzo (23), Chef (23), Querkopf (24), Hebi (30). „Als Rechte würden wir uns bezeichnen, aber nicht als Skins.“ Alle vier waren dabei als Waltze, ihr Kumpel, vor „Müllers Grillbar“, abgestochen wurde. Vor ein paar Stunden sind sie aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Gegen sie wird nun ermittelt. Einige sind einschlägig vorbestraft. Voll verhaltener Wut wollen die Jungmänner sagen, „was wirklich bei der Grillbar passiert ist.“

Chef: „Waltze hat mit dem Typ Ärger gehabt, dann sind die rausgegangen und haben sich geboxt. Fight 1:1, Mann gegen Mann. Mit einemmal sind zwei von uns raus, gucken, was los ist. Einer kam zurück und hat gerufen: Der hat ihn abgestochen. Da sind wir alle raus. Waltze lag in einer riesigen Blutlache, auf'm Bauch, Kopf auf der linken Seite. Der sah aus ... Der Typ und seine Freundin saßen im Auto. Wollten flüchten. Wir haben die Scheiben eingeschlagen. Er fuchtelte mit dem Messer rum und hat geblökt: ,Ich schlitz euch alle auf!‘ Hat Querkopf und Hebi verletzt. Haben ihn rausgeholt und zugeschlagen. Ist doch normal, wenn der unseren Kumpel abgestochen hat. Würde jeder so machen.“

Ein kräftig gebauter Jugendlicher sei Waltze gewesen. Maurerlehrling, „eher der ruhige Typ“, der für jeden Spaß zu haben war . Wie der Streit mit Nino, der „linken Zecke angefangen habe, könnten sie nicht sagen, aber Waltze sei bestimmt provoziert worden. „Wie der linke Typ schon aussah“ , erregt sich Gonzo, „rote Schnürsenkel, die Haare auf der einen Seite abrasiert, auf der anderen lang. Wir hatten nichts dagegen, daß er in der Grillbar sitzt, aber er kann doch nicht durch die Gegend flitzen und jeden aufschlitzen. In fünf Minuten so'n Gemetzel.“

Biste ein Linker in Riesa, triffst du dich in der „Spinne“, im „Pub“ oder im „Offenen Jugendhaus“. Biste ein Rechter, gehst du in den „Merzdorfer Club“, in die „Linde“ und nachts in „Müllers Grillbar“. Neun Jugendhäuser gibt es in der Kleinstadt, ungewöhnlich für einen Ort mit 43.000 Einwohnern. Chef: „Wenn da ein Anarchofreak in die Grillbar rennt mit ‘ner 15 Zentimeter langen Klinge ist das kein Zufall. Ich geh doch auch nicht in ‘ne linke Kneipe, nur um einen Bananensaft zu trinken.“

Die Vier und ihre Kumpane haben Nino brutal zusammengeschlagen. Wahrscheinlich wäre er jetzt tot wie Waltze, wenn die Polizei nicht rechtzeitig eingetroffen wäre. Trotzdem fühlen sich die Jungmänner im Recht. Gonzo: „Die Polizei hat uns erst als Zeugen verhört und dann als Täter behandelt. Das ist doch kein Rechtsstaat.“ Chef: „Man fühlt sich als Opfer. Wir als Rechte werden unterdrückt, immer sind wir schuld. Wir haben doch niemanden gekillt“, verteidigen sie sich. Der Polizei werfen die vier unterlassene Hilfeleistung vor: Sie habe sich nur um Nino, nicht um den schwerverletzten Waltze gekümmert.

Ninos Vater: „Es bringt nichts das Linke, hab ich ihm immer wieder gesagt. Es bringt nichts.“ Ninos Vater sitzt in der Wohnung, die er mit seinem Sohn teilt. Unruhig, übernächtigt. Ein kluger Kopf sei sein Sohn, ein guter Schüler. Nur habe er sich in letzter Zeit nichts mehr sagen lassen.“ Schon durch seine Kleidung war er als Linker zu erkennen. Und davon ließ er sich auch nicht abbringen.“ Erst Sonntag früh, mehr als 24 Stunden nach der Messerstecherei, hat Ninos Vater von der Schlägerei erfahren. Durch seinen Sohn, der ihn aus dem Krankenhaus anrief. „Weil ich nicht wußte was los war, bin ich ins Krankenhaus geplatzt, voller Wut, und hab Nino gefragt, was er mir schon wieder angetan hat.“

Inzwischen glaubt der Vater nur noch, daß Nino etwas angetan wurde: „Er pöbelt nicht. Er ist ganz zurückhaltend. Aber wenn der Strich voll ist, ist er voll, Und das war wohl so.“ Mit dieser Einschätzung kann sich Ninos Vater auf die Lehrer seines Sohnes berufen. Auch in der Schule gilt der schmächtige 17jährige als einer, der stundenlang diskutieren würde, statt zuzuschlagen. Prügeln? Ein Kampf Mann gegen Mann? Das können sich weder Vater noch Lehrer vorstellen.

Mühsam kramt Ninos Vater nach Worten. Der Mann hat Angst, um seinen Sohn und um sich. „Die werden sich rächen,“ sagt er, „ich hab schon Morddrohungen bekommen.“ Ninos politische Haltung wäre ihm durchaus sympathisch – „Er ist eben rot wie seine Mutter, meine Ex-Frau“ – aber immer habe er gefürchtet, daß etwas passiert. An jenem Samstag sei Nino nachts um halb eins von seiner Freundin mit dem Auto abgeholt worden. „Die Freundin hat ihm zu Weihnachten das Messer geschenkt, mit dem er dann zugestochen hat. Immer wollte ich es ihm wegnehmen. Einen schwarzen Griff hat es gehabt und eine lange, feststehende Klinge.“ Ninos Vater war nicht erbaut, als sein Sprößling mitten in der Nacht mit „diesem Mädchen“ abhauen wollte. Krach habe es gegeben. Seit der Scheidung vor drei Jahren sei es eben nicht so einfach mit dem Sohn. „Trotzdem – bisher ging es uns gut.“ Wiedergesehen hat der Vater Nino erst im Krankenhaus.

Die linke Szene „In den letzten Jahren“, erzählt der 20jährige Henry, „ging es zwischen uns und den Rechten eigentlich glimpflich ab.“ Damals, 1990 und 1991, wären in Riesa noch harte Zeiten gewesen. “ „Durch die Wende sind rechte Cliquen entstanden. Das waren harte Kaliber“. Das linke Jungendhaus wurde überfallen, ständig gab es Prügeleien. Dann habe die Stadt auch den Rechten Räume zur Verfügung gestellt. Die Deeskalationsstrategie ging auf.

„Doch inzwischen“, ergänzt Henryke, die mit Freund Henry im Musikcafe „Spinne“ sitzt, „hat sich wieder was verändert. Die Kinderglatzen sind nachgewachsen.“ Überfälle auf das Asylbewerberheim habe es gegeben, auf einen Italiener, auf einen Vietnamesen. Alles im letzten Jahr. Auch Waltze, der Tote von der Grillbar, sei so eine „Hilfsglatze“ gewesen. „Ein absolut dummer Typ, der immer nur provoziert hat. Wollte sich immer gleich prügeln. Seine Freunde mußten ihn oft zurückhalten. Bei dem wundert's mich nicht.“

Was Nino, der Linke, nachts in der Grillbar gesucht hat, ist ihnen ein Rätsel. Henryke: „Natürlich gehen da nicht nur Rechte hin. Ist ja die einzige Kneipe, die noch mitten in der Nacht offen hat. Aber jeder weiß, daß sich dort die Glatzen treffen.“ Henry: „Wenn ich aussehe wie ein Punker würd ich mich da nicht blicken lassen.“

Am Anfang der Woche hat die Soko Rex, die Sonderkommisiion Rechtsextremismus einen regionalen Ermittlungsabschnitt in Riesa eingerichtet, den fünften in Sachsen. Es wird gegen neun Verdächtige aus der rechten Szene ermittelt, ihre Aussagen sind widersprüchlich. Nur einer von ihnen, der noch im Krankenhaus liegt, hat gestanden, Nino provoziert zu haben. Gegen Nino wird wegen Körperverletzung mit Todesfolge ermittelt. Die Polizei hofft einen Aufmarsch der Rechten nach dem Tod von Waltze hofft verhindern zu können. Nur um Nino macht sich die Polizei Sorgen. „Wir können ihn nicht ewig schützen.“