Zwei Freunde für den Sozialismus

Alexander Misch, der ehemalige Führungsoffizier des ORB-Moderators Lutz Bertram, will mit dem Freund nur über die Stimmung „im Volk“ und den Sozialismus geplaudert haben  ■ Von Annette Rogalla

Einmal wird auch er Talkgast sein. Das Thema der Sendung wird lauten: Die persönlichen Beziehungen zwischen IM und Führungsoffizier und deren politische Verstrickungen. Oder so ähnlich.

Und einer würde dem Führungsoffizier beistehen: IM Romeo, Klarname: Lutz Bertram.

Bertram würde demutsvoll in die Kissen zurückfallen und anfangen, mit der Geschichte, die ich bitte erzählen zu dürfen. Die beginnende Blindheit durch den Grünen Star habe ihn, Bertram, in die Arme des Ministeriums für Staatssicherheit getrieben. Mit leiser Stimme würde sich der beliebteste Ost-Moderator rechtfertigen: Ein Paß ist Leben. Ich wollte nie mehr disponibel sein. Der Talkmaster würde Bertram für seine Offenheit danken, sich dann seinem Führungsoffizier zuwenden und streng fragen: „Finden Sie es nicht verwerflich, die Blindheit eines Mannes ausgenützt zu haben?“ „Nein“, würde er mit fester Stimme antworten. „Nie habe ich das getan. Lutz Bertram war freiwilliger MfS-Mitarbeiter. Er hat bei den ersten Treffs sogar ausdrücklich darum gebeten, auf seine Blindheit keine Rücksicht zu nehmen.“ Die kargen Sätze würden einen kleinen Tumult provozieren. Und nach einer Weile würde niemand mehr den Mann mit dem leicht welligen melierten Haar, in grauer Hose und Pullover, bemerken. Stumm dasitzen würde Alexander Misch, Wasser nachgießen und dem Tohuwabohu zusehen.

Ein öffentliches Selbstbekenntnis? Auch wenn es Alexander Misch schwerfiele, für den Freund Lutz Bertram würde er in der Löwengrube Talkshow Platz nehmen. Wenn er ihn darum bäte.

Damit ist so bald nicht zu rechnen. Erst wenn in der Gauck- Behörde die Opfer-Akten nach dem IM Romeo durchsucht worden sind, wird der Frühstücksdirektor alles über seine Stasi- Geschichte sagen. Bis dahin wird auch Misch den Mund halten. Das hat er mit Bertram abgemacht. Mindestens einmal am Tag ruft der Frühstücksdirektor bei ihm an und erkundigt sich, ob der Führungsoffizier auch ja keinen Kontakt zur Presse pflegt.

Vergangenen Samstag, zwei Stunden vor seinem letzten Fernsehauftritt, meldete sich der angeschlagene Frühstücksdirektor nach einer längeren Sendepause bei ihm und sagte: „Alex, ich sag' ihnen, daß ich dabei war.“ Seit langem schon habe Bertram „reinen Tisch“ machen wollen. Verstanden hat Alex das nicht. In den Akten kann nichts stehen. „Mich hat nicht interessiert, was er über die Kollegen und Freunde gesagt hat, mir waren die großen Linien wichtig.“ Intimes habe er gar nicht wissen wollen. Die Fragen, die er mit Bertram erörtert habe, seien vom Schlage: Was denkt das Volk? gewesen. Die Sofa- Gespräche hätten sie im Charakter knochentrockener ML-Vorlesungen gehalten. Etwa: „Wie den Sozialismus verbessern?“ Das klingt banal. Soll aber so gewesen sein. Bertram habe keine personenbezogene Aufgabe gehabt. Für derlei Ausforschungen bei Rundfunkmitarbeitern sei die Hauptabteilung XX beim MfS zuständig gewesen; Misch gehörte zur Hauptabteilung VI.

Kennengelernt hat Alexander Misch Lutz Bertram etwa um die Jahreswende 1983/84. Als der Rundfunkmann samstags die Top ten aus England ansagte. Gewieft hörte er sich an, clever. Gar nicht so wie einer, den die Kollegen ein bißchen links liegenlassen, weil er blind ist. Ein schlagfertiger Geist. Den wollte Misch haben. Bertram war der erste IM, den der frischgebackene Jurist von der Humboldt- Universität zu führen hatte. Mit einer „banalen Legende, die er sofort durchschaut hatte, haben mein Kollege und ich ihn geworben.“ Welche das war? Fällt unters Schweigeabkommen. Was war spannend an Bertram? Bleibt noch ein Geheimnis. Nur soviel: „Wenn er gewollt hätte, hätte er jederzeit aufhören können.“

Bertram wurde rasch zu einem besonderen IM. Er, der soviel über die Beatles zu sagen wußte, hatte eine Gabe, die Alexander über alles bewunderte. „Er kam an jeden Menschen ran. Mit wem der reden wollte, konnte er reden.“ Bertram, der geborene Kommunikator, hatte das, was dem Führungsoffizier fehlte. Witz, Esprit, Elan. Im Gespräch mit ihm tauten Menschen auf. Daß Bertram die Welt er-hörte, zog Misch in seinen Bann. „Der wurde durch nichts abgelenkt, keine Farben, keine Blicke. Er hörte alles und registrierte jede Schwankung in der Stimme.“ Eine Psychologenweisheit, daß die Stimme des Menschen seine Seelenlage verrät.

Misch hingegen war der spröde, ein wenig scheue Typ. Der sich auf der Suche nach Informanten haufenweise Körbe einfing. „Neun von zehn Menschen, die ich für die Stasi werben wollte, schickten mich weg.“ Wie dieser eine Mann, der den jungen Stasi-Offizier anfuhr: „Mit euren Gestapo-Methoden will ich nichts zu tun haben.“ Das saß eine Weile. „Ich habe viel darüber nachgedacht. Aber mit der Gestapo konnte man uns doch wirklich historisch nicht vergleichen.“ Weggesteckt hat er den Vorwurf. Verdrängt. Keinen Erfolg gehabt zu haben, ist schon dumm.

Bertram bemühte nie so bittere Vergleiche. „Bei ihm ging es von gleich zu gleich.“ Alexander Misch fühlte sich aufgehoben. Schnell verschwammen die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben. Führungsoffizier und Informant begegneten sich mit Sympathie. So etwas wie Freundschaft entstand, die bis heute hält.

Noch. Wer weiß, wie es sein wird, wenn Bertram erlaubt, alles offenzulegen. Was, wenn wirklich eine seiner Mitteilungen einem anderen geschadet hat? Wird Bertram dann zu Misch stehen? Oder wird er den Weg aller entdeckten IM gehen, die sagen, sie waren das Opfer und der Führungsoffizier der Täter?

Geld hat Misch dem IM Romeo nie gegeben. Die Geschenke kamen von Bertram. Wie das weiße Album der Beatles. „Die Treffen mit ihm waren die Krone. Sie haben meinen Horizont erweitert.“ Aus der Wohnung des Musikerfreundes Bertram stieg der Duft der weiten Welt auf. Er kannte sie alle, die dem drei Jahre Jüngeren fremd waren. Sollte Bertram herausfinden, ob einer seiner Künstlerfreunde sich mit der Absicht trug, im Westen zu bleiben? Misch schweigt. Spekulationen liegen nahe, denn in der Hauptabteilung VI, der er angehörte, fühlte man sich auch für Grenzsicherungen zuständig.

Acht Jahre lang streifte Misch mit Stift und Block durch die Hauptstadt der DDR. Die Stimmung des Volkes sollte geortet werden. „Mit Ausspionieren hatte das nichts zu tun“, meint er noch heute. Mehr so in soziologischer Richtung habe er seinen Job begriffen. Eine Art Sozialdatenfischer sei er gewesen. Zum Machtapparat zählte er sich nie. Vielmehr hätten die verknöcherten Genossen an der Spitze die Berichte nicht gelesen. „Sie haben die Stasi richtiggehend mißbraucht.“ Einmal muß er das laut gesagt haben.

Der Vater hat ihn dem Erich- Mielke-Ministerium versprochen. Die beiden anderen Söhne hatte er in der NVA untergebracht, sein jüngster sollte so werden wie er: Stasi-Offizier. Daß Menschen von Mitarbeitern des MfS gefangen und gequält wurden, streicht Alexander Misch aus seinem Gedächtnis. „Vielleicht war das mal in den fünfziger Jahren so. Aber da herrschte ja auch extrem kalter Krieg.“ Danach, als er ein Rädchen im System war, sei „so etwas nicht mehr passiert“. Oder nur vereinzelt. Daß die Staatssicherheit Andersdenkende verfolgt hat, sei ihm erst zur Wende bewußt gewesen. „Als ich das mit Bärbel Bohley gehört habe ... Da konnte man nur mit dem Kopf schütteln.“ Wann immer seine persönliche Meinung gefragt ist, greift Alexander Misch zum unbestimmten man.

Er hat sich nichts vorzuwerfen. Einmal hat er sogar einem Kollegen geholfen, aus der Firma auszusteigen. Der hat die Schizophrenie zwischen Aushorchen und Agonie der Führungsspitze gespürt und nicht mehr ausgehalten. „Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der verrückt geworden wäre.“ Niemand hat die Qualen des Kollegen bemerkt. Bis auf Misch. Der ist zu seinem Vorgesetzten gegangen und hat ein gutes Wort eingelegt.

Als die Menschen 1989 auf den Straßen riefen: „Stasi in die Produktion!“, ist er in eine Umschulung gegangen. Eine glatte Fehlplanung. Kaufmännische Assistenten werden nicht gesucht. Ein knappes halbes Jahr hat er sich danach als juristischer Berater bei einem Reisebüro durchgeschlagen. Die Klitsche ging pleite. Sein Studium würde zwar als Erstes Staatsexamen anerkannt. Auch bekäme er einen Platz als Referendar. Aber da liegt schon ein Bescheid des Kammergerichts Berlin vor, der eine spätere Verbeamtung ausschließt: „Bei ihrer Vergangenheit können wir nicht davon ausgehen, daß sie loyal zu diesem Staat stehen.“

Alexander Misch will einen Platz in der neuen Gesellschaft finden und kriegt keinen. Er will seine Ruhe und findet sie nicht. Längst hat er es aufgegeben, in den Bewerbungsunterlagen auf seine Vergangenheit hinzuweisen, weil er erkannt hat, „daß das Wort Stasi keine Diskussion auslöst, sondern ein Urteilsspruch ist“.

Wer fragt schon nach den Motiven von IM und Führungsoffizier? Wie hat es sie beide beflügelt, als Gorbatschow 1986 den Gedanken vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ aussprach! Noch 1988 wollten sie zum Geheimdienst, zu Markus Wolf wechseln. „Romeo“ Lutz Bertram und Alexander Misch: das Team, das den guten Sozialismus bringt.

Bertram, der damals gerade an einem Buch über Peter Maffay schrieb, durfte in den Westen reisen, Oskar Lafontaine interviewen und in einer NDR-Talkshow auftreten. Misch erinnert sich gut, daß Bertram nicht nur geschmeichelt war, sondern mehr wollte. Er wollte sich in der West-Talkshow als Moderator empfehlen. Wen hätte er nicht alles interviewen können. Bei Bertram wären die Informationen des Klassenfeindes zusammengelaufen. Misch wäre im Hintergrund, in der HVA geblieben. Hirngespinste waren das. „Richtige Pläne hatten wir nicht. Vorstellungen bloß, Utopien. Spinnereien, sagen wir mal so.“ Nur ein bißchen hängt er der alten Männerphantasie hinterher. Solange, bis er etwas anderes gefunden hat. Neidlos blickt er zu Lutz Bertram. „Ich freue mich, daß er es geschafft hat, das zu werden, was er wollte. Aber ich kann mich wegen meines Lebens doch nicht zerfleischen.“

Alexander Misch braucht auch was Neues. Der Mann ist 38 und Vater von zwei Söhnen. Lange hält er es nicht mehr aus, tagaus, tagein auf der Couch zu sitzen, Tee zu trinken und den Mund zu halten.