2,5 Kilo bombenfähiges Uran verschwunden

■ Amt für Atomsicherheit der DDR dokumentierte Verlust von Nuklearmaterial aus der Foschungsanlage Rossendorf

Berlin (taz) – Sebastian Pflugbeil, Minister ohne Geschäftsbereich in der letzten Regierung der DDR, nahm die Papiere unter Verschluß. Die „vertrauliche Dienstsache“ des Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz schien auch ihm nicht für die Öffentlichkeit geeignet. Fünf Jahre nach dem Ende der DDR hat Pflugbeil die Dokumente nun doch der Zeitung Junge Welt zur Verfügung gestellt. Sie lesen sich wie ein Drehbuch über Schwarzhändler mit Nuklearmaterial. Zwischen den Jahren 1984 und 1988 sind in den Kernforschungsanlagen von Rossendorf bei Dresden mindestens 2,532 Kilo hochangereichertes Uran verschwunden.

Wo der Bombenstoff blieb, ist unbekannt. Auch die Verantwortlichen von Rossendorf standen vor einem Rätsel. Der Fehler war zum ersten Mal 1984 bei der Jahresinspektion durch die Internationale Atomenergieagentur (IAWO) aufgefallen. Die Kontrolleure vermißten 559 Gramm spaltbaren Urans, das die Sowjetunion in sogenannten Brennstoffkassetten geliefert hatte. Der hochangereicherte Stoff sollte zur Produktion von Isotopen dienen – ein lukrativer Geschäftszweig der Rossendorfer Anlagen: Die aus dem Zerfall der Uranatome gewonnenen Spaltprodukte wurden zum großen Teil über eine Firma des Devisenbeschaffers Schalck-Golodkowski an westliche Krankenhäuser und Forschungsinstitute geliefert.

Die internationale Kontrollbehörde nahm die Differenz zwischen gelieferter Uranmenge und den dokumentierten Isotopen lediglich zu Protokoll. Eine Beschwerde gegen die DDR, die zu den Unterzeichnerstaaten des Atomwaffensperrvertrages gehörte, ist nicht erhoben worden. Sehr viel besorgter reagierte die Aufsichtsbehörde der DDR selbst. Ihre Berichte, die nach Angaben der Jungen Welt bei der IAEO nicht bekannt sein sollen, bemühen sich um eine Erklärung des Phänomens, das sich seitdem alle Jahre wiederholte. Schon vor Abschluß der Bilanz von 1985 zeichnete sich eine „ähnliche Differenz“ wie im Vorjahr ab. Tatsächlich fehlten nun 613 Gramm Uran. „Umfangreiche Untersuchungen“, so der vertrauliche Bericht, hätten ergeben, daß es sich nicht um normale Betriebsverluste handeln könne. Ein Jahr danach lag das Urandefizt bei 326 Gramm. Diesmal spekulierte die Aufsichtsbehörde, der „tatsächliche Kernmaterialgehalt“ sei seitens der Sowjetunion zu hoch angegeben worden.

Diese Hypothese ließ sich nicht erhärten, zumal im folgenden Jahr der etwa dreifache Fehlbestand von 1.034 Gramm festgestellt wurde. Unzulänglichkeiten in der Dokumentation und der allgemein schlechte Zustand der Anlagen könnten dafür verantwortlich sein, notiert der Bericht jetzt ohne Überzeugungskraft. Es handle sich da um „ein zunehmend ernster werdendes Problem, für das 1989 zumindest eine Teillösung gefunden werden muß“.

Das Chaos der Wende verhinderte jede weitere Kontrolle. Seit einiger Zeit mehren sich jedoch Hinweise darauf, daß das atombombenfähige Material, das im vergangenen Jahr erstmals auf den internationalen Schwarzmärkten aufgetaucht ist, aus Rossendorf stammen könnte. Denn aus dem hochangereicherten Uran der Sowjetuion wurden nicht nur zivil nutzbare Isotope gewonnen. Die DDR betrieb in ihrem Atomzentrum auch einen Forschungsreaktor mit dem Bombenstoff und arbeitete an einem Wiederaufarbeitungsprogramm für verbrauchte Brennstäbe. Nach Auskunft des heutigen Direktors Häfele hat die Sowjetunion selbst hochreines Waffenplutonium nach Rossendorf geliefert. Auch die Dokumentation über dieses Material sei unvollständig, gab Häfele neulich gegenüber der amerikanischen Zeitschrift Nuclear Fuel zu. Niklaus Hablützel