Neofaschistische Stammtischhoheit?

■ betr.: „In fünf Minuten so ein Ge metzel“, taz vom 11. 1. 95, „Riesa: Gilt der Notwehrparagraph?“, taz vom 12. 1. 95

Nachdem im vergangenen Jahr von Neonazis wieder zahlreiche Körperverletzungen und Morde an meist wehrlosen Opfern begangen worden sind, ist am 7. Januar in Riesa ausnahmsweise ein gewalttätiger rechter Angreifer getötet worden. Die Staatsanwaltschaft legt in der Regel strenge Maßstäbe an, wenn sie beurteilt, ob „antifaschistische Selbsthilfe“ auch strafrechtlich gerechtfertigt ist. Hier geht die Dresdner Staatsanwaltschaft bisher davon aus, daß der 17jährige Nino in Notwehr handelte, als er sich der Angreifer mittels eines Messers erwehrte. Daß gegen Nino nur ein Ermittlungsverfahren wegen „Körperverletzung mit Todesfolge“ (und nicht wegen Totschlags) eingeleitet wurde, signalisiert, daß die Staatsanwaltschaft Nino nicht unterstellt, er sei darauf aus gewesen, einen Angreifer zu töten.

Trotz dieser Sachlage eröffnet Bascha Mika seine Reportage mit den Worten „Jetzt ist er (Nino) ein Totschläger oder Schlimmeres“ (assoziiert werden soll wohl: ein „Mörder“). Damit wird Nino entgegen der gesetzlichen Unschuldsvermutung publizistisch vorverurteilt. Denn die gewählte Formulierung impliziert, Nino habe vorsätzlich getötet, und blendet zugleich die vermutlich vorliegende Rechtfertigung (Notwehr) aus. Diese Schieflage in der Berichterstattung wird durch den unterschwellig erhobenen Vorwurf verstärkt: Wer in einer (ostdeutschen) Kleinstadt mit roten Schnürsenkeln und Punkerfrisur in eine von Rechten dominierte Kneipe geht, braucht sich nicht zu wundern, wenn er zusammengeschlagen wird. [...]

Dies liefe auf die Anerkennung gewaltgestützter neofaschistischer Stammtischhoheit hinaus. Deshalb sei klargestellt: Auch Menschen mit roten Schnürsenkeln dürfen die Kneipe frei wählen und sich gegen etwaige Übergriffe verteidigen! Tobias, Göttingen

[...] Der Verfasser prägt in diesem Artikel den Begriff der „Revierverletzung“ und erweckt bewußt den Eindruck, daß für jemand, der abends in eine Kneipe, biologistisch ausgedrückt: eben in ein „Revier“ geht, in dem auch Skins verkehren, normale Regeln des menschlichen Zusammenlebens nicht mehr gelten: Wie im Tierreich werde eben eine „Revierverletzung“ mit Angriff und Totschlag – mit einem gewissen Recht, wie der Verfasser durchblicken läßt, geahndet. Wer also das rechte „Revier“ nicht akzeptiert, sei im Grunde „selbst schuld“. Es ist dasselbe Lied jener „verständnisvollen“ Analytiker, die zum „Verständnis“ des Vergewaltigers anführen, das vergewaltigte Mädchen habe ja auch einen kurzen Rock getragen, und wieso fährt die abends überhaupt mit einem Bus allein nach Hause, um nahezulegen, daß die vergewaltigte Frau ja eh in gewisser Weise selbst schuld sei.

Diese Art des rechten Journalismus [...] erinnerte mich an einen Vorfall, den in beeindruckender Weise Ignatz Bubis in der Paulskirche 1993 am 9. November berichtete und analysierte, nämlich den Vorfall, wie die jüdischen Demonstranten aus Frankreich nach ihrer Verhaftung bei den Protesten gegen die pogromartigen Vorfälle in Rostock im Gefängnis von den Justizbeamten aufgefordert wurden, ihre jüdische Kopfbedeckung abzunehmen, denn damit würden ja die „Rechten“ nur zu Angriffen und Überfällen „provoziert“! Soweit sind wir schon wieder!

Nino und seine Freundin müssen also offensichtlich nicht nur vor den zu erwartenden Verfolgungen durch die Nazis geschützt werden, sondern auch gegen den denunziatorischen Journalismus eines taz- Reporters. [...] Benjamin Ortmeyer, Mitglied

der Gesellschaft für Christlich-

Jüdische Zusammenarbeit