Mickymaus-Euro-Schtetl

Im alten jüdischen Viertel von Krakau, Kazimiercz, boomt das Geschäft mit jüdischer Kultur. Heute eröffnet in der renovierten Mizrachi-Synagoge ein zweites jüdisches Kulturzentrum  ■ Von Sylke Tempel

Das Hochzeitsfest war ein voller Erfolg. Nachdem das Zeremoniell in der kleinen Remu-Synagoge in Krakaus ehemaligem jüdischen Viertel Kazimiercz beendet war und der Bräutigam unter herzlichem „Massel Tov“ ein Glas unter seinem Fuß zerbrochen hatte, feierten die Gäste im jüdischen Restaurant „Ariel“ bis spät in die Nacht. Das Ereignis fanden die Redakteure des Touristen-Magazins Welcome to Cracow noch Monate später erwähnenswert. Doch die „Renaissance jüdischen Lebens“ in Kazimiercz hatte einen kleinen Schönheitsfehler: Die Braut reiste aus England an, der Bräutigam aus Wien. Die Gäste waren ebenfalls importiert, und das Restaurant „Ariel“ führt zwar traditionelle jüdische Speisen wie „Tschulent“ oder „gefillte Fisch“, doch ansonsten ist es etwa so jüdisch wie eine der vielen katholischen Kirchen Krakaus.

250.000 Juden hatten in Polen den Krieg überlebt. Doch nachdem die letzten Nazis vertrieben worden waren, fielen bis 1947 noch mehr als tausend Juden Pogromen zum Opfer. 1956 und 1968, nach weiteren antisemitischen Wellen, verließen fast alle Juden Polen. „Selbst wenn ich mich heute auf den Marktplatz von Krakau stellen würde“, sagt Stella Müller-Madej, die von Oskar Schindler aus Auschwitz gerettet wurde, „und ganz laut rufen würde, ,Juden kommt, es gibt hier Brillanten‘ – es würde sich niemand zeigen.“

Nichtjüdisches – für Nichtjuden

Etwa 250 Mitglieder hat die jüdische Gemeinde Krakaus, kaum einer von ihnen ist jünger als sechzig Jahre. Sie sind froh, wenn sich in ihrer kleinen Synagoge, gleich neben dem Friedhof aus dem 17. Jahrhundert, noch die für das Gebet nötigen zehn Männer versammeln. Von den Touristen aus aller Welt, die auf den Spuren jüdischen Lebens nach Kazimiercz pilgern, bleiben sie meist unbemerkt.

Das Viertel, in dem die Bewohner einst in neun großen Synagogen beteten, ist heute ein großes Freiluftmuseum, ein Mickymaus- Euro-Schtetl, dem um des Tourismus willen künstliches Leben eingehaucht wird. Die jüdische Buchhandlung „Jordan“ bietet für zehn Dollar (Kreditkarten werden akzeptiert) Touren auf den Spuren von „Spielbergs Schindlers Liste“ an. Die Teilnehmer werden im Kleinbus von der „Stelle, an der Spielberg die Ghettoräumung drehte, Leopold Pfefferberg die Hacken zusammenschlug und von Amon Goeth das Leben geschenkt bekam“, bis zum ehemaligen Lager und Steinbruch Plaszow gekarrt, wo die genervten Arbeiter inzwischen ebenfalls Eintrittsgeld für ihren Steinbruch verlangen.

Vor sechs Jahren organisierten Krzystof Gierat und Janusz Makuch in Kazimiercz zum ersten Mal ein „Festival jüdischer Kultur“. Die Künstler wurden eingeflogen: nichtjüdische deutsche Musiker, die unter Polizeischutz für das nichtjüdische polnische Publikum jiddische Lieder spielten. Weil ausländische Journalisten den makabren Charakter der Veranstaltung kritisierten, lud man für das zweite Festival Klezmer-Musiker aus den USA ein, die „originale und authentische jüdische Musik“ spielten. „Das Leben ist zurück in Kazimiercz“, begeisterten sich die Kritiker, „und auch Mordechai Gebirtig, der Schreiner, Poet und Sänger, ist zurück“, was nicht etwa ein aufsehenerregender Fall einer zweiten Auferstehung von den Toten war, sondern die simple Tatsache, daß für den von den Nazis erschossenen Juden eine Gedenktafel angebracht wurde.

Seither boomt das Geschäft mit der jüdischen Kultur, auch wenn es sich um eine Scheinrealität handelt. Gleich neben dem Restaurant „Ariel“ eröffnete ein zweites „jüdisches“ Restaurant, „Ariel II“, dessen Besitzer sich seither mit dem Besitzer von „Ariel I“ darüber in den Haaren liegt, wer denn nun die Rechte auf diesen Namen besitzt, und die sich in Sachen „Jüdischkeit“ gegenseitig übertrumpfen möchten. Beide bieten abends Live-Musik, etwa von ukrainischen Kapellen; schluchzende Geigen gelten schon als jüdische Folklore. Erst als der Besitzer von „Ariel I“ eine Mesusa – eine Kapsel mit einem Psalm – an seiner Tür anbrachte, schritt der Vorstand der jüdischen Gemeinde ein. Die Mesusa, die anzeigt, daß der Besucher den Haushalt einer gläubigen Familie betritt, mußte wieder abgeschraubt werden.

Für die künstliche Wiederbelebung des Viertels sorgen vor allem amerikanische Juden, die hier ihre Wurzeln suchen. Für zwei Millionen Dollar baute ein amerikanisch-jüdischer Mäzen namens Mark Talismann ein aufwendiges „Jüdisches Kulturzentrum“. Als das Zentrum eröffnet wurde, fehlten allerdings die Mittel für ein Programm und für die Ausstattung der geplanten Bibliothek. Dem ersten Direktor, Janusz Makuch, wurde „der Schlüssel zu einem Mercedes in die Hand gedrückt, aber das Geld für das Benzin fehlte“. Inzwischen hat das Zentrum einen neuen Direktor, die Bibliothek ist noch immer nicht ausgestattet, und die Sekretärin ist zugleich Garderobiere und Putzfrau, und damit offensichtlich so ausgelastet, daß ihr Zeit bleibt, hinter jedem der Besucher den teuren Marmorboden nachzupolieren.

Wo ein Talismann ist, mag auch ein Ronald Lauder nicht fehlen. Wenige Schritte vom „Jüdischen Kulturzentrum I“ entfernt, eröffnet er in der neu renovierten Mizrachi-Synagoge heute ein zweites jüdisches Kulturzentrum. Doch anders als im ersten schaffen sich Ronald Lauder und der Vertreter der Lauder-Stiftung in Polen, Rabbi Schudrich, ihre Kundschaft selbst. Der rührige Rabbi bemüht sich um junge Polen, die in assimilierten Familien aufwuchsen, in ihrem Stammbaum einen jüdischen Großvater oder eine jüdische Großmutter entdeckten oder sich nur „einfach irgendwie jüdisch fühlen“, und nun im Schnellverfahren konvertiert werden.

Der 27. Januar, 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, hat symbolische Bedeutung für den Rabbi, vermutet Henryk Halkowski, mit knapp 50 Jahren das jüngste Mitglied der Krakauer Gemeinde. „Wie Phönix aus der Asche soll jüdische Kultur in Kazimiercz entstehen. Doch was hier passiert, ist Geschäftemacherei mit jüdischer Kultur und dem Holocaust.“ Man will beweisen, sagt der Kantor der Remu-Synagoge, Wlodzimierz Sztejn, daß Hitler nicht gesiegt hat. Doch der alte Kantor, der als russischer Soldat in deutsche Gefangenschaft geriet und überlebte, weil er sich als muslimischer Sohn eines bessarabischen Scheichs ausgab, ist vom nachträglichen Sieg der Juden wenig überzeugt: „Fragen Sie meine Frau und meine Kinder, die in Auschwitz starben. Fragen Sie die Millionen Juden, die getötet wurden, oder die Überlebenden mit ihren schrecklichen Erinnerungen, ob Hitler gewonnen hat oder nicht.“

„Seit wann gibt es koscheres Wasser?“

Wlodzimierz Sztejn hat das jüdische Kulturzentrum noch nie betreten. Er wird sich auch das Lauder-Projekt in der neu renovierten Mizrachi-Synagoge nicht ansehen. Und vom dritten Zentrum des Konstanzer Fabrikanten von koscherem Wodka und „koscherem Wasser“, Nissenbaum, das in postmoderner Scheußlichkeit neben seiner kleinen Remu-Synagoge entsteht, hält er ebenfalls nichts. „Wo hat es schon einmal koscheres Wasser gegeben“, sagt er. „Vermutlich richtet Nissenbaum dort einen Schnapsladen ein und bringt es obendrein noch fertig, koscheres Schweinefleisch zu verkaufen.“

Wenn am 26. Januar – am Vorabend der offiziellen Gedenkveranstaltung, auf der Staatsmänner und Nobelpreisträger in Auschwitz Reden über die Bedeutung des Holocaust halten werden – Lauders Kulturzentrum eröffnet wird, wird die kleine Krakauer Gemeinde alleine ihren Gottesdienst in Kazimiercz feiern und das Kaddisch, das jüdische Totengebet, sagen. Denn zur offiziellen Feier hat die alten Krakauer bislang noch niemand eingeladen.