Ventil-Verkleidungen

Kleidung als Verkleidung / Über ihre Ventil- und Integrationsfunktion und die Zusammenhänge zwischen schwäbisch-alemannischer Fasnet und Berlins Subkultur  ■ Von Petra Brändle

In Berlin scheren sich ja nur wenige darum, daß wir uns inmitten der fünften Jahreszeit befinden. In Süddeutschland hingegen laufen die Vorbereitungen für die schwäbisch-alemannische Fasnet auf Hochtouren, Verkleidungen werden geschneidert, Perücken aus Schachteln hervorgeholt und möglichst abwegige Kostüme erfunden. Das führt dann dazu, daß aus braven Schülerinnen Nutten werden, die von Zuhältern an arabische Ölscheichs versteigert werden, während die Mütter dieser Schüler und Schülerinnen sich heimlich als Hausierer tarnen und im Lumpenlook hinter Hut und Rauschebart unerkannt das Balzverhalten der Spößlinge beobachten. O ja, die närrische Jahreszeit ist hier wohl die wichtigste, noch wichtiger als Weihnachten, weshalb der aufgeklärt angehauchte Pater in weiser Einsicht schon vor Jahren die Masken zur Narrenmesse in die Kirche holte. In der Predigt ging es natürlich um Rollen, Masken und Freiheiten, ums Lustigsein und Miteinander-Lachen – und daß man das doch alles nicht übertreiben dürfe und außerdem die Gesellschaft eigentlich nicht die richtige sein könne, in der man es nötig habe, in eine zweite Rolle zu schlüpfen.

Derart beseelt stürzt man sich in die tollen Tage. Menschen tanzen miteinander, die sich sonst nicht mit dem A...llerwertesten anschauen würden, die Küche bleibt kalt, die Betten bleiben bis zum Morgengrauen ebenso, Eierlikör fließt reichlich. Alle Jahre wieder ereignet sich dieses merkwürdige rituelle Treiben, inklusive Rathausschlüsselübergabe an die hoheitlichen Narren und abschließenden Hexenverbrennens.

Fast jedeR macht mit, fast alle jedoch verurteilen die turnusmäßige Heiterkeit hinterher als verlogenen Schein, und die Vertraulichkeiten der närrischen Zeit kühlen – bis zum nächsten Jahr – deutlich ab. Eigentlich wundert es, warum die närrische Zeit nicht längst abgeschafft wurde, da doch die wenigsten hinterher zum Vergnügen stehen.

Doch da mag der „Fall Kiebingen“ bei Rottenburg als Erklärung weiterhelfen. Karen Ellwanger, Professorin für Kulturgeschichte der Textilien und studierte Kulturwissenschaftlerin, untersuchte die Narretei im schwäbisch-alemannischen Raum und entschlüsselte die Bedeutung. Demnach heißt Fasnet: Freiheit für die Frauen! Vor allem sie hauen bei dem Treiben auf den Putz, lassen Haushalt Haushalt sein, gehen in Weibercliquen aus „und amüsieren sich wirklich, und zwar richtig“, so Karen Ellwanger. (Und das scheint auch das männliche Geschlecht zu beglücken, denn sonst hätte Mann den Brauch längst ableben lassen.)

Außerdem integriert offenbar die traditionelle Maskerade – und befriedigt damit das Bedürfnis der „Zugereisten“. „Gerade sie engagieren sich besonders in den Fasnetszünften, aber auch in den Heimatvereinen. Manche bereiten sich das ganze Jahr darauf vor.“

Fasnet scheint aber auch für das geeignete Mittel gehalten zu werden, die Identität einer ganzen Ortschaft stabilisieren zu können. Gerade in den frühen siebziger Jahren, zu Zeiten der Eingemeindungen, wurden allerorten neue Zünfte und Fasnetsvereine gegründet, so Ellwanger. Auffällig ist jedoch, daß das rituelle Verkleiden gerade in westlichen Gesellschaften gepflegt wird, deren Funktion eine „einheitliche Persönlichkeit“ voraussetzt und wo die „multiple Persönlichkeit“ zum Krankheitsbild gehört. Die Fasnet: also auch ein Ventil, um heimliche Sehnsüchte auszuleben.

Und schließlich ist die Fasnet auch Tummelfeld für modische Experimente. In ländlich-braven und verschlafenen Gegenden war es in den frühen Achtzigern besonders beliebt, als Punkerin durch die Straßen zu ziehen. In der sogenannten fünften Jahreszeit eine legitime Provokation, die zudem noch hinreichend Befriedigung versprach, denn die rebellische Seele wurde sehr wohl mit spitzen Bemerkungen (von Lehrern, Eltern...) kommentiert.

Die Bühne Berlin hingegen präsentiert täglich RebellInnen jeder Couleur, eine Message steckt beinahe in jedem Gewand. Ein besonderes Ventil, eine besondere Verkleidung, scheint es, ist hier nicht mehr nötig. Auch von einem modischen Trend kann längst nicht mehr die Rede sein, es sei denn, man begreift den Stilmix als Trend. Kombiniert wird wild durcheinander. So ist für Karen Ellwanger beispielsweise die weiblich Stilmischung Ausdruck eines gewandelten, vielschichtigen Rollenverständnisses. Die derzeit modischen derben Stiefel zum Rock vereinen Rockerbraut und Lolita, Karriere und Erotik, signalisieren selbstbewußte Sexualität. Die Steigerung des Stilmixes besteht, das ergab eine Untersuchung der Hochschule der Künste, im täglichen Rollenwechsel, mit Vorliebe gepflegt von immer mehr jungen Frauen. Mal Gärtnerin, mal Diva, mal Dandy, mal Sportlerin, und immer in sich stimmig ist die tägliche Häutung. Das Rollenbild ist zwar perfekt, nicht jedoch die Kleidung selbst. Zum rasenden Rollenwechsel gehört die schnelle Anpassung – notfalls wird eine Naht getackert.

All das ein Hinweis auf verlorene Identitäten? Nicht unbedingt. Karen Ellwanger entdeckt darin auch einen frechen, spielerischen Umgang mit den unterschiedlichsten Seiten einer Persönlichkeit. Die ältere Generation hingegen, so die Untersuchung, übt sich eher in vornehmer Zurückhaltung und trägt klassische Bescheidenheit. „Das kann man aber auch anders lesen, das kann eine Ängstlichkeit davor sein, über die Kleidung zuviel auszusagen.“ Aussagen, die der Karriere einen kleinen Knick geben könnten, etwa.

Manche von den dezent Gekleideten mögen eventuell eine Kostümdesignerin wie Hermaphrodite aufsuchen. Sie fertigt hin und wieder Zwangsjacken, Damendessous für Männer oder Barockkleider. Die meisten ihrer Kunden sind erfolgreiche, absolut unauffällig gekleidete Geschäftsmänner, die ihre Lust heimlich ausleben.

Oder Herbert Y., arbeitslos, zum Beispiel. Er läßt sich alle paar Wochen Schuhe schustern. 800 Mark sind ihm die aufregenden Maßanfertigungen wert, mit denen er zur Lack-, Leder- und Latexparty im Bunker stöckelt. Bundweit klappert er damit auch die anderen einschlägigen Partys ab, zum nächsten Auftritt im Bunker erscheint Herbert Y. in neuen Schuhen und neuer Verkleidung. Ein Verhalten, das Karen Ellwanger für die großstädtische Variation der fasnetsnärrischen Weiber hält, die sich ein ganzes Jahr auf die verrückten Wochen vorbereiten.