Die letzte Süße

Birgit Breuel erhält eine Medaille  ■ Von Gabriele Goettle

In Zeiten, in denen es zwar noch Herren gibt, aber kaum noch Formen, ist das Ausgleiten auf dem gesellschaftlichen Parkett zur zweiten Natur der Akteure geworden. Dafür gibt es genug Gründe. Der Außenstehende erliegt leicht der Versuchung, keine tiefere Bedeutung in den Worten und Erscheinungen zu vermuten, sie lediglich für ein Zusammenspiel von Zufällen zu halten. Oft allerdings fällt die Entscheidung, ob etwas Zufall oder Absicht ist, nicht leicht. So wollte doch die Ludwig-Erhard- Stiftung gewiß niemandem zu nahe treten, als sie in ihrer Pressemitteilung den Akt der Verleihung eine „Übergabe der Ludwig-Erhard- Medaille für Verdienste um die soziale Marktwirtschaft an Frau Dr. h.c. Birgit Breuel“ nannte, oder doch? Übergabe! So ein Wort schleicht sich ein, Übergabe, Übernahme. Hier hat sich niemand was dabei gedacht. In dieser Wortwahl ist kein Vorwurf versteckt, bestimmt nicht. Schließlich ist die Auszuzeichnende – neben Persönlichkeiten wie Walther Leisler Kiep, Otto Graf Lambsdorff, Prof. Dr. Dr. h.c. Elisabeth Noelle-Neumann, Dr. Theo Waigel und vielen anderen – eines der 75 Mitglieder dieser Stiftung. Insofern war auch der Ort der Ehrung, eine einsame Montagehalle in einer Fuchs-und- Hase-Gegend, nicht als Affront gedacht (obgleich frühere Empfänger der Medaille, wie z.B. der erste Herausgeber der FAZ Erich Welter, der Computerhersteller Nixdorf, der Verleger Bucerius, in einem weitaus würdevolleren Ambiente ausgezeichnet wurden). Man könnte auch sagen, daß die funktionale Atmosphäre einer Montagehalle ganz besonders gut mit der Tätigkeit einer Treuhandpräsidentin harmonieren kann.

Das Entwicklungs- und Montagezentrum „umweltfreundlicher“ Triebwerke für zivile Verkehrsflugzeuge steht seit September 1993 im neuen Bundesland Brandenburg, Richtung Zossen, 30 Kilometer südlich von Berlin. BMW Rolls-Royce, gut subventioniert, will bis zur Jahrtausendwende 1.000 Arbeitsplätze schaffen. Man blickt optimistisch in die Zukunft, besonders in Erwartung des neuen Großflughafens, der aller Wahrscheinlichkeit nach hier im Süden gebaut werden soll. Lächelnde Damen empfangen die Gäste im wabenförmigen Bürogebäude, der betriebseigene Sicherheitsdienst erscheint und führt die Besucher ohne jede Kontrolle durch elektronische Schranken und Magnetkartentüren zur bereits erwähnten Montagehalle, in der jeder sein anheftbares Namenskärtchen erhält. Die Gäste, vorwiegend Herren in kleineren Grüppchen, gehen plaudernd umher, betrachten die kleine Ausstellung zu Produkt und Produktgeschichte. Produziert wird hier nicht serienmäßig, man montiert und testet Versuchstriebwerke. Unter der farbenfrohen Krananlage stehen weiße Tischchen für den späteren Imbiß bereit, leere Stuhlreihen vor Podium und Leinwand harren der Gäste, die so zahlreich wie erwartet erscheinen werden. Aus zwei großen Lautsprecherboxen tönt eine Klassikkonserve, auf die Leinwand werden Zitate rund um Ludwig Erhard projiziert, gerade erscheint von einem Prof. Dr. F.A. v. Hayek (Nobelpreisträger für Wirtschaft) folgendes: „Unter allen Ökonomen, die ich gekannt habe, bin ich keinem anderen Mann begegnet, der einen solchen Instinkt für das, was richtig ist, gehabt hat wie Ludwig Erhard.“

„... das Triebwerk wird mit den Leitkränen über die Drehkranzbahn hier hereingefahren, an die Kabelschuhadapter angeschlossen, vom Luftansaugkanal kommt dann der Fangkorb ...“ Aus der eben noch interessiert lauschenden Gruppe brechen jäh mehrere Gäste aus und streben zum Eingang, durch den gerade der sächsische Ministerpräsident Biedenkopf hereingeleitet wurde. Man mußte den CDU-Mann herbemühen, denn der Ministerpräsident von Brandenburg gehört der SPD an, jener Partei, die den Untersuchungsausschuß zur Klärung der Treuhandtätigkeit initiierte, und kam daher wohl als Laudator nicht in Frage. So hat nun alles seine Ordnung. Der Poltiker wird alsbald von drängenden Männern umringt und ist, da von kleiner Gestalt, für eine Weile nicht mehr zu sehen. Erst als Frau Breuel in Begleitung der leitenden Herren erscheint, wird es um Biedenkopf leerer. Er steht mit den Verbliebenen vor einem gewaltigen weinroten und brandneuen Motorrad, alle machen einen fachmännischen Eindruck und wirken animiert. Ich ergreife die Gelegenheit, trete näher und frage den Ministerpräsidenten: „Verstehen Sie was von Motorrädern?“ Er blickt zerstreut auf mein Kärtchen: „Nein, ... aber ich finde das sehr interessant.“ Ich frage freundlich: „Und was ist nun das Interessante daran, wenn man gar nichts davon versteht?“ Worauf er, mit dem Zeigefinger Richtung Tachometer deutend, ausruft: „Na, die ... die Auslegung, die Dimension, der Hubraum, eh ... die PS natürlich ... die Maschine hat wahrscheinlich 80 oder 90 PS ...“

Auf dem Podium haben Platz genommen: der Vorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung, die Treuhandpräsidentin, der Aufsichtsratsvorsitzende von BMW, der sächsische Ministerpräsident, ein Professor vom Max-Planck-Institut zur Erforschung von Wirtschaftssystemen Jena, und der brandenburgische Minister für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie (als sozialdemokratische Stimme für die spätere Diskussion); allesamt Westdeutsche. Nachdem der Vorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung die einstimmige Entscheidung der Mitgliederversammlung für die „mutige Präsidentin“ mitgeteilt hat, erwähnt er nebenbei: „Ich will aber nicht verschweigen, daß auch gefragt wurde, ob und wie diese Entscheidung bei den Bürgern der neuen Bundesländer ankommt.“ Mehr als diese Frage stand der Entscheidung offenbar nicht im Wege. Dann ist viel die Rede von Auftrag und Erfüllung, von einmaligen historischen Umständen, vom Fehlen von Vorbild und Erfahrung, von der Gratwanderung ohne Absturz nach rechts oder links, von Umfeld und Strukturerneuerung. Und immer wieder klammert sich die Rede an einen Begriff, der dem Gesagten offenbar sicheren Halt und seriöses Gewicht verleihen soll: Ordnungspolitik. Ordnungspolitische Bilanz und ordnungspolitische Perspektive liegen vor und mit der Verleihung „an Frau Breuel, am Ende ihres schwierigen Präsidentenamtes, möchten wir diese ordnungspolitische Leistung würdigen“. Ein merkwürdiges Wort. Unangenehm.

Der Ministerpräsident lobt in seiner Laudatio komischerweise an erster Stelle die Pflichterfüllung der Stiftung, die die selten verliehene Medaille bisher stets an Männer vergab: „Insofern löst die Ludwig-Erhard-Stiftung heute nicht nur eine selbstverständliche Pflicht ein, einer hochangesehenen und verdienstvollen Arbeit die Ehre zu erweisen, sondern auch einer Frau.“ Doch damit nicht genug: „Noch bevor Birgit Breuel im April 1991 die Nachfolge des ermordeten Detlev Rohwedder antrat, hat sie in ihrem politischen, und ich möchte auch sagen, was ihr literarisches Werk nun betrifft, in ihrer literarischen Arbeit Leistungen vollbracht, die für sich schon ausgereicht hätten, sie zu einer würdigen Trägerin der Ludwig-Erhard-Medaille werden zu lassen.“ Schon damals, in ihrer Zeit als Ministerin im Kabinett des niedersächsischen Ministerpräsidenten, habe sie die „Aufmerksamkeit aller Ordnungspolitiker auf sich gezogen durch eine Fülle von Initiativen im Bereich der Entstaatlichung, der Entbürokratisierung, im Kampf gegen die Subventionen“. Auch habe sie Maßstäbe gesetzt „mit ihrem Vorgehen zur Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand, im Bundestag und in vielen anderen Bereichen Initiativen ergriffen, die bis heute gültig sind und die zum ordnungspolitischen Grundbestand der Politik in Deutschland gehören (...) Ordnungspolitik ist eben nicht nur eine Frage der Wirtschaft im engeren Sinne.“ Verdächtig oft fällt dieses Wort, nein, es fällt nicht, es wird verwendet wie ein Stempel, der Amtlichkeit bescheinigt. Was soll damit signalisiert werden? Unmerklich fast bekommt der Ministerpräsident dann den Faden der Geschichte zu fassen – oder ist es umgekehrt? Ein Rückblick in die Vergangenheit: „Die Aufgabe war hier vergleichbar der Umstellung einer ganzen Wirtschaftsordnung. Ludwig Erhard war von dieser Aufgabe im übrigen fasziniert. Nicht nur in seiner ersten, ja nur in einem hektographierten Rundschreiben bekanntgewordenen Stellungnahme zur Gestaltung der Nachkriegswirtschaft, in den Jahren 1944 geschrieben, sondern auch in seinen Äußerungen in den fünfziger Jahren zu dem, was wohl geschehen müsse, wenn es zu einer Wiedervereinigung käme, aber natürlich vor allem in seiner Tätigkeit als Bundeswirtschaftsminister in der Zeit des Aufbaus und der Entwicklung der Grundlagen der alten Bundesrepublik, die ja im Zuge der deutschen Einheit auch die Grundlage des geeinten Deutschlands geworden ist. Die Arbeit der Treuhand, und damit auch die Arbeit ihrer Präsidentin, war ein wesentlicher Bestandteil des Transformationsprozesses, der sich in Ostdeutschland abgespielt hat.“

Dieser merkwürdig verknäulte Redeabschnitt plätschert normalerweise am Ohr des Zuhörers ebenso vorbei wie das übrige, aber beim Abhören des Tonbandes zu Hause fiel er mir auf. Wieso war Erhard fasziniert und von welcher Aufgabe? Weshalb 1944? Ich habe mich ein wenig sachkundig gemacht. Erhard saß 1944 in einem von den IG-Farben finanzierten Institut für Industrie- und Wirtschaftsforschung in Nürnberg und hatte eine Studie erarbeitet zum Problem von „Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung“. Es handelte sich dabei nicht um ein hektographiertes Rundschreiben, sondern um eine über 250 Seiten starke Arbeit (die bis 1976 als verschollen galt), in der Vorschläge und Grundpositionen auch für eine zukünftige Wirtschaftspolitik entwickelt sind. Wobei es selbstverständlich nicht um nachfaschistische wirtschaftspolitische Perspektiven geht, sondern um eine nationalsozialistische Nachkriegswirtschaft; allerdings angepaßt an den damals bereits überdeutlich formulierten Willen der Industrieführer, in Zukunft staatliche Eingriffe zurückzustutzen. Es war 1944 also allerhöchste Zeit geworden, einen runderneuerten ordnungspolitischen Rahmen zu präzisieren, bevor andere das in die Hand nehmen. Erhard beachtete die Interessen beider Seiten und erregte das Interese beider Seiten. Die der Reichsgruppe Industrie und die des Reichswirtschaftsministeriums, was zur guten Zusammenarbeit mit einem Unterstaatssekretär führte (einem SS-Mann mit hohem Rang, der 1939 Leiter der Abteilung „Deutsche Lebensgebiete“ im Reichssicherheitshauptamt wurde; bis 1942 war er Leiter einer Einsatzgruppe Ost, befaßt mit „Säuberungsaktionen“, sprich: Terrorisierung und massenhaftem Abschlachten der Zivilbevölkerung, womit, nebenbei bemerkt, auch der Weg geebnet wurde für die Arisierungs- und Enteignungstätigkeiten der Haupttreuhandstelle-Ost; der Mann wurde 1948 vom Nürnberger US-Militärgerichtshof als Massenmörder zum Tode verurteilt und drei Jahre später hingerichtet; er hatte übrigens in seinem Gnadengesuch eine vollkommen neue Variante der bisher üblichen Befehlsnotstand-Entschuldigung vorgetragen: die des Gehorsams aufgrund staatsbürgerlicher Treuepflicht). Erhard hatte also 1944 mit diesem Mann an der Erstellung eines Planungskonzeptes gearbeitet; es enthielt fast alle seine wesentlichen späteren wirtschaftspolitischen Grundpositionen, an erster Stelle drastischen Abbau staatlicher Bewirtschaftung, auch Stärkung unternehmerischer Eigeninitiative, Sicherung des Wettbewerbs und Beseitigung von Wettbewerbsschranken, also Beschränkung der Rolle des Staates auf eine ordnungspolitische Gestaltung aller dazu notwendigen Voraussetzungen und Bedingungen. Im Prinzip das, was später soziale Marktwirtschaft genannt wurde.

In der Ordnungspolitik ist seit ihrer Erfindung der immergleiche Wurm drin, idealistisch angehauchte Nationalökonomen und Politiker versuchten damit schon in den frühen zwanziger Jahren Kapitalismus und soziale Gerechtigkeit unter einen Hut zu bringen. Das Ergebnis: Unordnung. Die Nationalsozialisten haben gezeigt, wie man das macht, Erhard und andere haben das Instrumentarium modernisiert. Wahrscheinlich hat mit der Währungsunion auch eine neue Ära der Ordnungspolitik begonnen und, so wie es aussieht, entwickelt sie sich womöglich in einer Weise, die selbst einen neuen Rechten erschrecken wird. Was Erhard betrifft, so wurde er wegen Begünstigung ehemaliger Nazis 1946 kurzfristig aus dem Ministeramt entfernt von den Amerikanern, später durfte er dann auf der üppigen Grundlage des Marshallplanes sein Wirtschaftswunder vollbringen und Wohlstand für alle versprechen. Das waren dann wohl die Kriegs- und Nachkriegsaufgaben, von denen er fasziniert gewesen sein soll.

Zurück in die Montagehalle, zur Rede des Ministerpräsidenten Biedenkopf, der gerade vom Kompaß spricht, den Erhard für „neues, unbekanntes Gelände“ entwickelt hat, daß Frau Breuel diesen Kompaß nie aus der Hand gelegt habe „im Ringen um die richtige ordnungspolitische Antwort“, nebenbei erleichterte sie „den Menschen in den ostdeutschen Betrieben und Unternehmungen, auf eine neue Art zu denken, denn die Zusammenhänge zwischen Produktion und Konsum waren ja weitgehend verlorengegangen“ unter der Planwirtschaft, es mußte also „neben der Privatisierung der Betriebe gewissermaßen auch das Denken privatisiert werden“. Für all diese großen Leistungen gebühre ihr Dank und Auszeichnung.

Und nun findet die Übergabe der Medaille statt. Nach dem Verlesen der Verleihungsurkunde nimmt die Treuhandpräsidentin alles in Empfang und hat nun Mühe, den Fotografen sowohl das Kästchen mit der puderdosengroßen Goldmedaille (mit Erhard- Porträt) als auch Urkunde und Dankeslächeln zu präsentieren. „Meine Damen und Herren, Sie werden verstehen, daß ich ein wenig bewegt bin, denn wem geschieht es schon im Leben, daß er an einer Aufgabe mitwirkt, die ungeheuer ist, aber auch tiefbewegend ist und menschlich einen sehr in Anspruch nimmt ...“ Das ist sie also, die mächtigste Frau Deutschlands. Sie trägt ein schwarz-grün- grau kariertes Schottenröckchen mit Springfalte, undurchsichtige Strümpfe, halbhohe dunkle Pumps, eine schwarze Bluse mit weißem Auslegekragen, dazu ein weinrotes Jackett. Um den Hals an langen Goldkettchen hängen allerhand Dinge, zum einen wohl ein Damenührchen, dann ein, zwei Anhänger mit Sternzeichen oder Dollarzeichen? Steifgespraytes graubraunes, leicht gewelltes Haar umrahmt ein sehr blasses Gesicht. Die Züge sind von derart bestürzender Ausdruckslosigkeit, wie man sie sonst nur bei Menschen sieht, die einen Schlaganfall erlitten haben. Mit tiefer Stimme, fast gestenlos, trägt sie ihre Dankesrede vor, und auch die ist karg, sperrig, variiert das bereits Gesagte und klingt ansonsten wie am offenen Grab gesprochen.

Unglaublich, daß diese Frau, die eine geradezu kittelschürzenartige Schlichtheit ausstrahlt, mit dem Pioniergeist der apokalyptischen Reiter ihre Pflicht erfüllt. Herr Biedenkopf erwähnte ihr Wirken als Wirtschafts- und Finanzministerin in Niedersachsen. Nicht aber das Resultat: Bei ihrem Ausscheiden lag das Bruttoeinkommen der Niedersachsen zehn Prozent unter dem Bundesdurchschnitt, die Verschuldung der Niedersachsen war im Verlauf ihrer Amtszeit von 7,5 auf 40 Prozent gestiegen, und auch die Zahl der Arbeitslosen war auffallend. Wie Herr Biedenkopf sagte, Frau Breuel hat schon damals durch eine außergewöhnliche Fülle von Initiativen die Aufmerksamkeit der Ordnungspolitiker auf sich gezogen.

„Es gibt kein Butterbrot umsonst“, lautet der Titel eines ihrer Bücher. Die Arbeitslosen, Alten und Sozialhilfeempfänger der neuen Bundesländer können das bestätigen. Für ihr Butterbrot war der Gegenwert von 600 Miliarden Mark Volksvermögen zu entrichten. Denn neben dem Denken und den Betrieben – das vergaß der Laudator zu erwähnen – wurde ja auch die Treuhandanstalt privatisiert und gehörte fortan der alten Bundesrepublik, in deren freiheitlich-demokratischer Grundordnung das Rechtsgut Volkseigentum nicht existiert. Damit entfielen Volksvermögen und Anteilscheine, womit ja ohnehin nichts anzufangen gewesen wäre, denn, so die Treuhandpräsidentin, es gab diese 600 Milliarden erstens gar nicht, zweitens machten die Großbanken ihre Kreditzusagen von der Privatisierung der Staatsbetriebe einschließlich Grund und Boden abhängig. So ist dann auch eindeutig zu erklären, daß bei solch einem Mangel an Sicherheiten und Liquidität nur sechs Prozent des von der Treuhand zu privatisierenden Vermögens von Ostdeutschen erworben werden konnte. „Vieles ist noch nicht vollendet, aber mit unserer zügigen Privatisierung haben wir die Weichen gestellt“, tröstet Frau Breuel die bisher zu kurz Gekommenen. Die können sich derweil ins kostenlos verteilte Erhard- Buch „Wohlstand für alle“ vertiefen oder über Zahlenspiele nachgrübeln: Wie werden aus 600 Milliarden plus 270 Milliarden minus? Oder, die noch größere Kunst, wie erzielt man 73 Milliarden Einnahmen, wenn gar nichts von Wert vorhanden ist, sondern nur ein Schuldenberg von 270 Milliarden? Die sind allerdings, so die Treuhandpräsidentin, noch nicht ganz ausgegeben, 60 Milliarden konnte man davon zur Seite legen für die Not, für den Verkauf der 192 Unternehmen, die übriggeblieben sind.

„Hunderttausende Entscheidungen haben wir getroffen“, ruft die Treuhandpräsidentin aus, und es klingt fast etwas traurig. Eigentlich ist es das auch, denn, man muß sich das fragen, weshalb denn jetzt aufhören!? Weshalb mit dem Schwung und den großen Erfahrungen nicht weiterprivatisieren? Verkehrsmittel, Müllabfuhr, Straßenreinigung, Gefängisse, den ganzen schwerfälligen, maroden, Milliarden verschlingenden Staatsapparat, der dem Bürger täglich weniger Service und Schutz bietet. Da muß doch ein fachmännisches Auge sofort sehen: Was gehört abgewickelt, was wird an private Dienstleistungsunternehmer verkauft, was regelt sich sowieso von ganz alleine über den nun doch viel freieren Markt? „Jawohl“, sagt die Treuhandpräsidentin, „es ist viel vorangegangen, aber die Aufwärtsentwicklung geht von einem sehr niedrigen Niveau aus, die Arbeitslosigkeit wird uns noch lange Zeit erhebliche Sorgen bereiten, (...) angesichts der nachweislichen Zunahme der gesamtwirtschaftlichen Produktion von Gütern und Dienstleistungen (...) werden die neuen Bundesländer ...“ Ungeheures Krachen und Klirren verschlingt den Rest der Rede. Ein großes Tablett voller Champagnergläser für den anschließenden Umtrunk fiel zu Boden. Nach dem ersten Schrecken wird energisch applaudiert. Man weiß nicht, gilt das der Rede, dem Abbruch oder dem Glück, das die Scherben vermeintlich bringen.

Eineinhalb Stunden später, nachdem auch die Diskussion überstanden ist, gerät die Schar der Gäste bald merkwürdig in Unordnung, so als würde jeder Einzelne schnell nach dem richtigen Platz suchen. Das mit den Kärtchen ist schon eine schöne Einrichtung, man kann sofort überprüfen, wie sehr man sich in jemandem geirrt hat, nur weil er zu lange Hosen anhat oder ein so enges Jackett, daß sich sogar die Unterhosennähte abzeichnen. Die Männer, fällt mir auf, wissen in den allermeisten Fällen nicht, wohin mit den Händen und tragen sie, aus dieser Verlegenheit heraus, ineinandergelegt auf dem Rücken, mit den Handflächen nach außen, wie abwartende Kellner. Die in der Hierarchie weiter oben stehen, erfreuen sich offenbar ungezwungener Lässigkeit, die man anderswo geradezu unhöflich fände. Herr Biedenkopf steht beispielsweise breitbeinig da und telefoniert, spricht laut in ein Handy und schon herrscht kreisförmige Menschenleere ringsum. Man hat versucht außer Hörweite zurückzutreten. Frau Breuel steht mit den beiden Gastgebern an der Champagnerbar, auch um sie ist ein menschenleerer Korridor. Man hält respektvollen Abstand. Sie trägt eine schwarze Handtasche mit einem merkwürdig großen Verschluß. Ich muß verdachterregend näher treten und erkenne dann, es ist ein protziger goldener römischer Streitwagen. Plötzlich wird von allen Seiten gedrängt und geschoben, keine Rede mehr von diskreter Zurückhaltung. Der Grund dafür ist eine geradezu wölfische Gier. Den Kellnern werden die Teller mit den heißen Pastetchen, den Minibratwürstchen und zahllosen anderen Appetithäppchen direkt am Eingang von den Tabletts genommen, so daß ein aufmerksames Servieren, wie vorgesehen, nicht mehr möglich ist. Der Heißhunger scheint unstillbar. Die Herren wirken zunehmend derangiert. Erst später, als ein Teil der Gäste sich den angebotenen Betriebsführungen angeschlossen hat und die Prominenten verschwunden sind, ziehen sich die Verbliebenen an Tischchen zurück und lassen sich Kaffee und Törtchen servieren. Und noch später, als ich nach der Betriebsbesichtigung noch mal in die Halle schaue, stehen immer noch Herrengrüppchen herum, nun mit ganzen silbernen Tabletts voller Petits fours vor sich, während das Mietpersonal bereits aufräumt. Diese wild-verzweifelte Schäppchenmentalität zieht sich durch alle Schichten der Gesellschaft, sie scheint aber in den höheren Klassenlagen krasser aufzutreten, wie nicht zuletzt auch das große Treuhandfressen gezeigt hat.

Rainer Maria Rilke

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.

Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,

und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;

gib ihnen noch zwei südlichere Tage,

dränge sie zur Vollendung hin und jage

die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,

wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben

und wird in den Alleen hin und her

unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Mit diesem Gedicht auf der letzten Seite schloß die Treuhandanstalt am 31. 12. 94 ihre 15bändige Chronik ab.