„Das Volck würdt schreyen“

Eine Flut von Flugblättern warnte zur Zeit Martin Luthers vor Weltuntergang und Sintflut / Über den frühen Katastrophenjournalismus berichtet  ■ Martin Mulsow

Wir schreiben das Jahr 1524. An jeder Ecke der deutschen Städte gibt es kleine Blättchen zu kaufen, die vor dem Weltuntergang warnen. Virdung von Hassbach prophezeit:

„Es werdt aufsteigen ein unstümig (ungestümes) Wasser / bedecken die reich der bösen / und die stett und die weyte ihres ertrichß (Erdreichs) / biß zu den spitzen der berg versencken.“

Manche begnügen sich nicht mit solchen düsteren Warnungen. Josef Grünpeck zum Beispiel verfaßt vorsorglich eine Anleitung zum Verhalten bei Flutkatastrophen:

„Suchen Sie sich ein sicheres Haus, das nach Süden oder Osten hin gebaut ist. Sehen Sie zu, daß die Abflüsse der Wassergruben im Inneren des Hauses und außen in Ordnung, und daß die Regentraufen nicht verstopft sind. Und dann beten Sie!“

Die Wetterberichte für das Jahr 1524 sind entsetzlich schlecht, es sind eigentlich eher Weltuntergangswetterberichte. Denn die Fachleute haben ganze sechzehn „astrologische Konjunktionen“ im Sternbild der Fische ausgemacht. Ob das reicht für die Apokalypse oder nur für einige kräftige Katastrophen, darüber sind sich die Flugblätter von 1524 nicht einig.

Fast 150 Drucke über die Sintflut erscheinen in den Jahren um 1520. Und nun fallen diese Jahre mit den ersten Jahren der Reformation in Deutschland zusammen. Deshalb stellen die einen die dunklen Prognosen in den Dienst der Reformation und verfassen eine „Prognosticatio oder Erklerung der grossen Wesserung“; andere wagen politische Vorhersagen über lutherische oder päpstliche Fürstenhäuser und schreiben „Eine neue außlegung der seltzamen wundertzaichen“. Soll man sich einerseits nach Joseph Grünpeck gewissermaßen wetterfest anziehen, so klagen andere, daß jetzt alles verloren sei und nur noch die feste Hoffnung auf Gnade helfen könne. Beide Sorten von Flugschriften jedenfalls erreichen einen Produktionsboom.

Ende der Welt also oder eher Anfang der Bild-Zeitung? Wahrscheinlich hat schon damals das neue Medium Druck zu einer besonders vollmundigen Berichterstattung verführt. Neu war nämlich die Möglichkeit, in großer Zahl eine Mixtur von Wort und Bild unters Volk zu bringen. Und die Bilder auf den Flugblättern sahen damals gar nicht so anders aus wie die in den heutigen Zeitungen: Man sieht gestikulierende Leute im Wasser und in Booten, ein Kirchturm ragt mit seiner Spitze noch aus den Fluten. Oben drohen dann die unglücksbringenden Sterne. „Und das volck würdt schreyen und heulen“, heißt es darunter lapidar.

Grünpeck und seine Astrologenkollegen haben, mit stetem Seitenblick auf die einschlägigen Passagen der Bibel, das Untergangsszenario anschaulich diktiert. Und die Drucker haben daraus wilde Bilder werden lassen. So zeigt ein Flugblatt, wie Regen und Hagel die Gebäude einer Stadt zerstören und die Straßen überschwemmen. Ein Mensch versinkt beinahe in den Fluten, nur seine ausgestreckte Hand ist noch zu sehen. Ein Komet stürzt herab. Vorne kniet der Papst, hinter ihm steht, die Schwerter in der Hand, eine Reihe von Rittern — kampfbereit, aber machtlos.

Solche Bilder und die dazugehörigen Texte waren genau abgestimmt auf die Adressaten: Den Städtern wurde die Zerstörung ihrer Häuser vorhergesagt, und für die Winzer gab es den speziellen Bericht über die Verwüstung ihres Weinjahrgangs.

Immerhin blieb 1524, trotz aller Szenarien, das Wetter ganz normal, während heute das Rheinufer im Jahrestakt unter Wasser steht und die „Sündflut“ wieder zum Thema der Journalisten wird. Periodische Apokalypsen sind aber keine mehr, und so wird bei uns derselbe Effekt auftreten wie nach dem Ausbleiben der Sintflut von 1524: Der Katastrophenjournalismus überlebt sich selbst. Übrig bleibt das ernüchterte Einsehen, daß die Veränderung Alltag geworden ist.

Wie hatte doch Alexander Seitz 1521 gesagt? „Von wegen unsers verrochten lebens“ könne es durchaus wieder zu „wasserstraffen“ kommen. Gar nicht so falsch, gar nicht so fern, denkt man sich. Hausgemacht sind unsere Fluten allemal. Was übrigens das Beten angeht, das Josef Grünpeck den Sündern empfahl: Noch bis ins 18. Jahrhundert gab es das Wettergebet. Das mußte dann mit der Erfindung des Blitzableiters seinen Abschied nehmen; die Aufklärer und Naturwissenschaftler haben damals den „Fabeln“ von Sintflut und Sternenunglück den Garaus gemacht. Bis sie dann 1755 vom Erdbeben in Lissabon so eingeschüchtert wurden, daß sie wieder eine Weile den Mund hielten. Und heute? In unserem neuen Mittelalter scheint der Mechanismus von schludrigem Leben und „wasserstraffe“ wiederhergestellt. Mitsamt der Beigabe bebilderter Blättchen.