Rastaman Vibration

Ganja, Ganja ohne Ende: Heute wäre Bob Marley fünfzig Jahre alt geworden. In Deutschland war er nicht nur der „erste Superstar der Dritten Welt“ sondern auch ein Sänger der alternativen Volksseele  ■ Von Dietrich Roeschmann

Jaaahh! Rasta-Far-Iiiiiie! Ob beim Reggae-Sunsplash auf der Loreley oder nur bei der mittelmäßigen Roots-Jam im Jugendzentrum: Reggae-Konzerte in Deutschland fühlen sich auch heute noch wie eine Mischung aus Kirchentag, Friedensdemo und Therapieseminar an. Was sich hier zwischen Merchandising-Ständen und der Bühne abspielt, folgt einem volkstümlichen Standard, der sich über die letzten zehn jahre hinweg mit einer erstaunlichen Hartnäckigkeit gegen die Einflüsse des aktuellen Reggae gesperrt hat. Mehr noch: hier wurde der Reggae neu erfunden – als die harmonischste Form, etwas Freizeit für die Weltverbesserung abzuzweigen. Zumal hier alles bereitsteht, was den Frieden ausmacht: Musik, Marihuana, liebenswerte Menschen, die das Glück verbundener Gemeinschaft genießen und darauf warten, daß der Funke der Erlösung überspringt. Redemption, man! Am Ausgang gibt's Rastakinderbilderkitsch und Bob-Marley- Kultware zum Verkauf.

Redemption – Erlösung: Das forderte der amerikanische Popkritiker Lester Bangs schon vor fünfzehn Jahren. Erlösung von einer Musik, die derartig bewußtlose Dämmerzustände von Menschen möglich machte. Musik, wie sie auf Bob Marleys LPs „Rastaman Vibration“ oder „Kaya“ zu hören war. Diese Platten, schrieb Bangs in einer Rezension, seien nichts anderes als „Produkte der tiefsten Dekadenz Babylons“, „ein Haufen verlogener Scheiße“.

Bangs' Rezension wurde damals nicht gedruckt – erst Jahre später erschien sie auszugsweise in der Musikzeitschrift ME/Sounds. Jenseits der gehässigen Polemik machte sie auf einen entscheidenden Wendepunkt in Marleys Musik aufmerksam: Spätestens zur „Rastaman Vibration“-Zeit war seine rebellische Verweigerung früherer Tage dem Superstartum gewichen. Er hatte begonnen, den Crossovermarkt mit den stereotypen Formeln von Identität und natürlicher Geborgenheit zu beliefern, die er einforderte.

Für den deutschen Mainstream ist Bob Marley (und nicht Peter Tosh oder Bunny Wailer) gerade deswegen zur zentralen Figur des Reggae und Ikone der harmonischen Volksseele geworden. Seine Geschichte jedoch begann unter anderen Bedingungen, im historiographischen Niemandsland des Ska und Rocksteady, an dessen Rändern sich allenfalls ein paar versprengte Subkultur-Szenen herumtrieben; Musik aus einer Gegend, die in den sechziger Jahren noch keine eigene Mythologie aufweisen konnte.

Hier, in Trench Town, einem der ärmsten Stadtteile von Kingston, entlang eines Abwassergrabens errichtet, entstanden 1962 die ersten Aufnahmen der Wailers für den aus China eingewanderten Produzenten und Plattenladenbesitzer Leslie Kong. Die Single („Judge Not“) verkaufte sich nicht, woraufhin Kong sie nach erfolglosen Exportversuchen kurzerhand wieder einschmolz. Neville „Bunny“ Livingstone, Peter McIntosh, Junior Braithwaite und Bob Marley mußten sich nach einem neuen Produzenten umsehen.

Clement „Coxsone“ Dodd, Besitzer des ersten erfolgreichen Studio One, entschied sich, die Gruppe unter Vertrag zu nehmen. Ihr erster Song, der 1963 unter dem Namen „Wailing Wailers“ veröffentlichte Ska-Track „Simmer Down“, hielt sich acht Wochen lang auf Platz eins der jamaikanischen Charts. Damit hatte die Gruppe nicht nur den Durchbruch auf dem lokalen Markt geschafft, sondern zugleich auch ihr Image vorläufig festgezurrt. „Simmer Down“ („beruhige dich“), wie der Großteil der folgenden Aufnahmen für Coxsone, wandte sich mit hektischen Ska-Beats an die Rude Boys, eine Gruppe draufgängerischer Stadt-Jugendlicher, die Krawall machten, die Nachbarschaft terrorisierten und auch ansonsten gerne den individuellen Status von Verweigerung feierten. Gegen Coxsones rigide Labelpolitik und die minimalen Tantiemen, die er seinen Musikern zahlte, gründeten die „Wailers“ 1966 ihr eigenes Label, „Wail'n'Soul Records“, das sie nach mäßigem Erfolg ein jahr später jedoch wieder schließen mußten. Nach einem kurzen Zwischenstopp in Lee Perrys psychedelischen Dub-Studios verabschiedeten sie sich schließlich von ihrem Bad-Boy-Image und wandten sich der Rastafari-Religion zu.

Damit setzte eine entscheidende Wende in ihrer Musik ein. Auf dem Plattenteller machten Pfeifen mit dem „heiligen Kraut“ die Runde, der als Messias verehrte äthopische Kaiser Haile Selassie rückte immer stärker ins Zentrum, der Beat wurde langsamer, eindringlicher. Rebel Soul: Marley begann, seine ablehnende Haltung gegenüber den Zuständen im kapitalistischen „Babylon“ Jamaika deutlich zu formulieren. Der Auszug der Gerechten aus diesem Babylon, die biblische Metapher der Rastas für die Befreiung aus dem Sklavenhalter-System, das sie vor 400 Jahren von Afrika nach Jamaika verschleppt und nun mit seinem subtilen Unterdrückungsapparat in der Fremde festhielt, beschrieb nicht nur die zentrale Hoffnung der Rastas auf eine Rückkehr, sondern führte den Gedanken des Afrozentrismus über die Pfade des Reggae hier auch erstmals in die Popmusik ein.

Als Marley mit den Wailers zu Beginn der siebziger Jahre schließlich vom Star der jamaikanischen Szene zum „Superstar der Dritten Welt“ avancierte, war es Deutschland, wo er erstmals als Spiritual- Rhetoriker, der die jamaikanische Scholle mit ordentlichen Gitarren bewirtschaftet, rezipiert wurde. „Ein Religioso-Rebell, der aus dem Getto nach Liebe schreit“, wie sich Teja Schwaner 1975 in seinem Marley-Porträt für die Musikzeitschrift Sounds freute, „zusammengesetzt aus Dylan, Jagger, Wonder und Hendrix, aber doch niemand anders als Bob Marley.“ Mit seinem Eintritt in den europäischen Markt war Marley zu einer Projektionsfigur geworden, die über das anglo-amerikanische Rockrebellentum hinaus ein ganz neues Feld der Authentizität eröffnet hatte: die Armut des Slums.

Das Publikum war begeistert, wie es immer begeistert war (und ist) von Authentizitäten und Archaismen, vom Subjekt, das mit seiner Erfahrung im verdrittwelteten „Getto“-Raum die ganze globale (und schäbige Vorstadt-) Scheiße in eine reduzierte und identifizierbare Form zu bringen schien. Und das zu einem Sound, der fremd und monoton genug war, als exotische Volkskultur durchzugehen, ohne gleich ihren bettelarmen Kontext mitzuliefern. Mehr noch: „Catch A Fire“, „Burning“ und „Natty Dread“, die ersten Alben, die Marley für Chris Blackwells „Island Records“ aufgenommen hatte, schlugen – von Blackwell genauestens kalkuliert – erfolgreich in eine neue Kerbe.

Was hier in England mit Rockismen und reduziertem Baß für einen neuen Markt abgemischt worden war, roch auf eine Weise nach Shit und Sprit, die die Verbrüderungsphasen der Metropolenjugend mit den Armen dieser Welt nun auch auf ein hedonistisches Level hob – der jamaikanische Traum. Zu dessen Eingebungen konnte man auf Open airs abhängen, einen Nice day haben und jede Menge Klischeedeganken vom unkomplizierten Rasta-Leben – nach der Devise: „Politik, Politik, Politik ... ist Teufelssache, und daher will ich lieber mit den Bäumen zu tun haben, im Grünen denken, auf den Felsen meditieren, am Wasser.“ (Marley) Yeah, mon! Der Mehrwert, den eine derartige Lebensweise abzuwerfen versprach, war eine Ansammlung „kleiner Erlösungen“, back to the nature, die Verwirklichung „alternativer“ Utopien. Spätestens an diesem Punkt aber war „Bob Marley“ als Sinn- und Genußstiftungsunternehmen des Mainstream zu einem integralen Bestandteil jenes Systems geworden, dessen Niedergang er noch auf „Uprising“, der letzten Platte vor seinem Tod 1981, beschwört.

Der Markt hatte ihn und seine Weltsicht überholt. Übriggeblieben war ein volkstumskompatibler Mythos. Gerade die deutsche Rezeption baute diesen Vorsprung mit an Kalkül grenzender Sicherheit zu ihrem eigenen Ding aus und fand schließlich am Deutschen Eck auf sagenumwobenem Boden eine Konzertbühne, die groß genug war, Jahr für Jahr den ganzen Katalog ihrer naturromantischen Sehnsüchte erneut zu zelebrieren. Im wahrsten Sinne ganzheitlich wurde der Reggae mit der Heimat auf du und du gebracht.

Darüber hinaus hat das Unternehmen „Marley“ inzwischen ein Eigenleben entwickelt, das auch in den Geschäftsetagen entrückte Gesichter hinterläßt. Noch heute, an seinem fünfzigsten Geburtstag, wo sich die säkularen Spielweisen des Dancehall-Reggae und Raggamuffin weitgehend unabhängig vom Roots-Klischee etablieren konnten, ordnet die Legende den Markt: „The Legend“, sein posthumes Greatest-Hits-Album von 1984, belegte noch in diesem Jahr immerhin für neunzehn Wochen Platz eins der Billboard-Oldie- Charts.

Solange auf der Loreley oder im Jugendzentrum kein Stimmungsumschwung zu befürchten ist, wird erst einmal weitergefeiert werden können.