Nicht für Sarajevo sterben

■ Ein "konservativer Reflex" und traditioneller "Proserbismus" kennzeichnen nach Ansicht des Pariser Wissenschaftlers Jacques Rupnik die französische Ex-Jugoslawien-Politik

taz: Wie steht es um die französische Politik in Ex-Jugoslawien?

Jacques Rupnik: Man könnte sagen: bestens. Schließlich gibt es eine Initiative von Außenminister Alain Juppé, in Paris eine internationale Konferenz über Bosnien zu organisieren – mit Milošević, Tudjman und Izetbegović. Deutschland und die anderen Mitglieder der EU unterstützen das. Wunderbare Harmonie. Aber das stimmt natürlich nicht, denn diese Friedensinitiative hat ungefähr genauso große Aussicht auf Erfolg wie die vorangegangenen.

Hat Frankreich aus dem Versagen der europäischen Politik auf dem Balkan Lehren gezogen?

Ja und nein. Immerhin hat die Diplomatie ihre Ohnmacht eingesehen. Sie ist bescheidener geworden. Nein, in dem Sinn, daß der Präsident jetzt für Algerien eine neue Konferenz vorschlägt. Man hat den Eindruck, daß die Antwort auf eine Aggression die Einberufung einer internationalen Konferenz ist. Als ob die internationale Gemeinschaft Schiedsrichterin in dem Konflikt sein könnte. Das kann sie nur vorher oder nachher. Während eines Konfliktes greift man ein, um ihn anzuhalten, und wenn man das nicht tut, dann helfen Konferenzen auch nicht mehr weiter.

Wie hat sich die französische Politik gegenüber Bosnien entwickelt?

Es gab mehrere Phasen. Die erste läßt sich zusammenfassen in der Formel: Ein einiges und unteilbares Jugoslawien muß erhalten werden, um einen Krieg zu verhindern. In der zweiten Phase wollte Frankreich Vermittler sein. Dazu war ein gleicher Abstand zu allen „Kriegsparteien“ nötig – das heißt, man setzte alle auf dieselbe Ebene. Es gab keine Verantwortlichen.

Als sich der Konflikt auf Bosnien ausdehnte, betrachtete Frankreich Serbien schließlich als Angreifer. Aber die französische Antwort war nicht, die Aggression aufzuhalten, weder durch eine Intervention noch durch sonstigen Druck auf die Serben. Statt dessen leistete man humanitäre Hilfe. Da war die Reise von Mitterrand nach Sarajevo am 27. Juni 1992, während des Gipfels von Lissabon. Diese Reise war mit den europäischen Partnern nicht abgesprochen.

Woher kommt die französische Parteinahme für Serbien?

Einmal ist das ein konservativer Reflex der französischen Eliten auf den Zusammenbruch des Kommunismus. Leute der Generation von François Mitterrand wurden vom Zweiten Weltkrieg geprägt. Ich würde nicht soweit gehen zu sagen, daß sie den Status quo beibehalten wollten. Aber sie wollten die Auswirkungen dieses einmaligen historischen Umbruchs abmildern. Im Zweifel hielten sie sich an das Bekannte. Das kann man beobachten bei der Unterstützung für Gorbatschow, bei der Vorsicht gegenüber der deutschen Vereinigung und gegenüber der Auflösung Jugoslawiens. Zweitens lieben Franzosen Staaten, die einig und stark sind. Das ist die jakobinische politische Kultur – eine Falle unserer politischen Kultur.

... die sicher viel mit der französischen Entstehungsgeschichte zu tun hat.

Frankreich ist das Resultat einer Konstruktion eines starken Staates, ausgehend von verschiedenen regionalen Einheiten.

Würden Sie diese Einheiten mit den jugoslawischen Ethnien vergleichen?

Nein, das wäre ein Anachronismus, aber es gab starke regionale Einheiten, in der Bretagne, im Languedoc. In Frankreich hat der Staat die Nation geschaffen, während in Deutschland die Nation den Staat konstruiert hat. Die dritte Erklärung für die französische Haltung ist die Frage nach den geopolitischen Konsequenzen jener Umbrüche. Denn was im Begriff ist, zu verschwinden, ist nicht nur die Welt von Jalta und die Zweiteilung Europas, sondern auch die Welt von Versailles. Das heißt, die Staaten, die nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen wurden – unter der Ägide des Westens, im besonderen Frankreichs –, verschwinden: Jugoslawien, Tschechoslowakei.

Die Antwort auf die Frage: Wer profitiert davon? ist für gewisse Leute: Deutschland, das in diesem postkommunistischen Raum eine Art von Mitteleuropa als deutschen Einflußbereich schafft. Der französische – in Anführungszeichen – Proserbismus will das Gegengewicht sein.

Warum Proserbismus in Anführungszeichen?

Weil niemand jemals eine Erklärung abgegeben hat: „Wir sind für Serbien.“ Aber es gibt eine alte Serbophilie. Die Bindungen zwischen Frankreich und Serbien zwischen den beiden Weltkriegen sind vielleicht die vierte Erklärung. Sie haben in zwei Weltkriegen auf derselben Seite gestanden. Deshalb würde Frankreich niemals an einer Militärintervention gegen Serbien teilnehmen.

Ich glaube, das hat jedesmal eine Rolle gespielt, wenn es um Maßnahmen gegen Serbien ging. Wie sieht das denn bei konservativen Politikern aus?

Bei den jüngeren Politikern wie dem jetzigen Außenminister Juppé und Verteidigungsminister Léotard ist das Serbien-Bild extrem negativ. Bei ihnen ist nicht Serbophilie das Motiv, sondern Realpolitik. Aber ihre Politik ist die alte: Sicherheitszonen, humanitäre Hilfe, sogenannte humanitäre Korridore und so weiter. Niemand hat Lust, für Sarajevo zu sterben. Genauso wie früher niemand für Danzig sterben wollte.

Welches Projekt für das Nachkriegsjugoslawien gibt es heute in Frankreich?

Jugoslawien ist tot. Bosnien, das in sich selbst ein Mini-Jugoslawien war, konnte nicht länger überleben als Jugoslawien selbst. Es gibt eine Orientierung auf die Schaffung von Nationalstaaten in Ex-Jugoslawien – einen slowenischen, einen kroatischen, einen großserbischen Staat. Damit ist Bosnien zur juristischen Fiktion geworden, die nicht lebensfähig ist. Für Bosnien läuft das auf eine Dreiteilung zwischen Serbien und Kroatien mit Territorien für die Muslime hinaus. Das ist eine Rückkehr zu den Grenzen von August 1939. Der wichtige Unterschied ist, daß in der Zwischenzeit Bosnien-Herzegowina von den Vereinten Nationen als Staat anerkannt worden ist. Und nach meinem Wissen ist niemals einem Staat die Anerkennung entzogen worden.

Das Problem für unsere Diplomatie ist jetzt, wie sie die Teilung von Bosnien billigen und zugleich die juristische Fiktion der Existenz Bosniens aufrechterhalten kann. Die einzige Möglichkeit ist ein föderaler Staat für eine Übergangszeit – mit einer kroatisch-muslimischen Föderation und einem bosnisch-serbischen Teil, der die Option hätte, sich später Serbien anzuschließen. Ich glaube, damit hat man sich abgefunden. Und zugleich damit, daß Serbien die dominante Macht in diesem balkanischen Raum sein wird.

Gibt es in Frankreich noch Politiker, die an einen unabhängigen Staat Bosnien glauben?

Ja. Aber die sind immer in der Opposition. Doch Frankreich ist auch das Land, wo sich Intellektuelle und Gesellschaft am meisten für Bosnien-Herzegowina engagiert haben. Der Kontrast zu Deutschland ist erschütternd. Dort haben die Intellektuellen, besonders die linken, geschwiegen, haben sich abgefunden mit dem, was in Bosnien-Herzegowina passiert, und mit dem serbischen Sieg. So kam es zu dieser seltsamen Allianz der „Interventionisten“, die von den französischen Intellektuellen über die amerikanischen Falken bis hin zu Madame Thatcher reichte. Interview: Dorothea Hahn, Paris

Jacques Rupnik ist Wissenschaftler an der „Fondation nationale des Sciences politiques“ (CERI) in Paris und hat zahlreiche Untersuchungen über Ex-Jugoslawien und Osteuropa durchgeführt. Zuletzt gab er im Januar 1995 „Le Déchirement des Nations“ heraus; Editions du Seuil, Paris.