„Fast alle waren Hosenscheißer“

Was konnte ein Rechtsanwalt in der DDR in welchen Fällen für seinen Klienten tun? Über die wechselvolle Geschichte der Rechtsanwaltschaft im Realsozialismus zwischen Anpassung und gelegentlichem Aufbegehren  ■ Von Christian Semler

Theoretisch war die Rechtsanwaltschaft ein Fremdkörper im „entwickelten System des Sozialismus. Marx und Engels hatten in der „Kritik des Gothaer Programms“ zwar dem Recht einen notwendigen Platz in der Übergangsgesellschaft zum Kommunismus eingeräumt; aber entsprechend immer höheren Formen der Vergesellschaftung, sollten auch die Einrichtungen der Justiz zunehmend absterben, das heißt von gesellschaftlichen Instanzen absorbiert werden. Die Konfliktkommissionen auf Betriebsebene in der DDR, die ohne formalisierte Anklage und Verteidigung funktionierten, waren als Keimformen des Kommunismus gedacht, entbehrten in der Praxis allerdings jeder gesellschaftlichen Autonomie.

Aus der Tatsache, daß der Staat in der DDR nicht daran dachte abzusterben, haben DDR-Juristen – zuerst Ende der 50er Jahre – die Konsequenz gezogen, jetzt gelte es, den „sozialistischen Rechtsstaat“ aufzubauen. Das war eine anrüchige Theorie, vor allem wenn sie, wie bei dem Staatsrechtler und heutigen PDS-Politiker Jens-Uwe Heuer, die These enthielt, daß sich im Recht und seinen Institutionen Zivilisierungsprozesse verkörperten, die man nicht ungestraft negieren dürfe. Wie all die furchtsamen DDR-Reformisten dachte allerdings auch Heuer nicht daran, praktische Konsequenzen aus seinen Einsichten zu ziehen. Widersprüche zwischen Individuum und Staatsmacht wurden anerkannt. Die rechtsförmige Durchsetzung individueller Ansprüche, damit auch die Rolle von Rechtsanwälten, unterlag jedoch dem Harmonisierungsgebot. Denn schließlich drückte die sozialistische Staatsmacht objektiv die grundlegenden Interessen aller Individuen aus.

Was ein Rechtsanwalt in der DDR durfte und was nicht, unterlag nicht nur feststehenden ideologischen Prämissen, sondern auch wechselnden politischen Konjunkturen. Nach einer Phase härtesten juristischen Klassenkampfs „von oben“ in den 40er und 50er Jahren, in dessen Folge viele der alten, „bürgerlichen“ Anwälte ihre Praxen Richtung Westen verlegten, wurde in den 60er Jahren die Rechtspflege teilrehabilitiert. Es war die Zeit des neuen ökonomischen Systems, und die Kybernetik erlebte eine kurze Blüte. Rechtsanwälte waren nun anerkannte Bauelemente im multistabilen, vermaschten System. Damals nahmen strebsame junge Sozialisten wie Gregor Gysi in Berlin oder Rolf Henrich in Jena ihr Rechtsstudium auf. Zwecks Verbesserung ihrer Chancen gingen sie zuvor ein Jahr in die Produktion, um den Facharbeiterbrief zu erwerben, oder meldeten sich freiwillig zur Fahne. Dann folgte die Aufnahmeprüfung, Stellungnahmen befugter und etwas weniger befugter Instanzen wurden eingeholt. Dann wurde entschieden. Die Protokolle der Eignungsprüfungen verraten den DDR-eigenen marxistisch-pädagogistischen Stil: „Sie hat sich sehr intensiv um die Vervollkommnung ihrer gesellschaftswissenschaftlichen Kenntnisse und um die Aneignung erster juristischer Kenntnisse bemüht“ heißt es im Prüfungsprotokoll Brigitta Franckes vom 4. 5. 1964, nachzulesen in der Stasi-Akte, die über die spätere Rechtsanwältin Brigitta Kögler schon in den 60er Jahren angelegt wurde.

„Wer etwas auf sich hielt“, erzählt Rechtsanwalt Henrich heute, studierte mit dem „Palandt“ (dem autoritativen, in der BRD erschienen Kommentar zum BGB, der zu jener Zeit auch noch Urteile des Obersten DDR-Gerichts aufnahm). Noch lehrten, zum Beispiel auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie, in der DDR bürgerliche Zelebritäten aus der Zeit der Weimarer Republik. Von einigen wichtigen Ausnahmen wie dem veränderten Eigentumsbegriff abgesehen, glich das Zivilrecht einschließlich des späteren Zivilgesetzbuches der DDR einer trivialisierten Abart des Bürgerlichen Rechts..

Diese erträglichen Studienbedingungen fanden am 21. August 1968 ein jähes Ende. Die Studentin Kögler erdreistete sich, vor dem Forum ihrer Partei, der NDPD, einen Vortrag zu halten, der die Intervention der Warschauer-Pakt- Staaten als völkerrechtswidrig verwarf. Rolf Henrich wurde beschuldigt, vor dem tschechischen Kulturzentrum in der Friedrichstraße die „2.000 Worte“ des tschechischen Radikalreformers Vaculik verteilt zu haben (er war mittlerweile Assistent an der Humboldt- Uni und hatte linientreu die Invasion verteidigt, was ihm nichts half. Schluß mit der akademischen Karriere). Fortan hatte die Partei, vertreten durch die Abteilung „Staats- und Rechtsfragen“ beim ZK unter Genosse Sorgenicht, wieder ein genaueres Auge auf die Zöglinge. Kein Problem, in den jeweiligen Studienjahrgängen, die oft nur ein paar Dutzend Studenten umfaßten, waren stets einige Kommilitonen bei der „Firma“.

Nach Studienabschluß Rechtsanwalt zu werden war nicht ganz einfach, vor allem nicht für Frauen. Um dem Mangel an BerufsrichterInnen und StaatanwältInnen abzuhelfen, hatte schon die Justizministerin Hilde Benjamin, die „rote Hilde“, aus Betrieben und Verwaltungen vorzugsweise weibliche Werktätige mobilisiert, die dann im Kurssystem, zum Beispiel an der Babelsberger Akademie für Rechts- und Staatswissenschaften, für ihre Aufgabe getrimmt wurden. Die Arbeit war mies bezahlt und das soziale Prestige mehr als niedrig – also eine typische Frauenangelegenheit. Anwältin zu werden oder wenigstens später in die Anwaltschaft überzuwechseln hatten viele Frauen im Sinn, wie aus den Interviews hervorgeht, die Inga Markovits, Juraprofessorin in Texas, nach 1990 in der DDR führte. Die wenigsten schafften es. Man konnte sich auch als Justitiar bei einer großen Firma verdingen und auf eine Gelegenheit warten, wie das Brigitta Kögler als Bereichsjustitiarin bei Carl Zeiss Jena tat.

In der ganzen DDR gab es nur 550 Anwälte. „Ein kombiniertes Resultat“, wie Rolf Henrich heute sagt, „des Futterneids der Anwälte und der restriktiven Zulassungspolitik der SED“. Seit den 60er Jahren gab es nur noch wenige Einzelanwälte, das Gros war in Anwaltskollegien organisiert, die jeweils auf Bezirksebene eingerichtet wurden. An der Spitze jedes Kollegiums stand ein nominell gewählter, in Wirklichkeit aber ernannter Vorsitzender, ein Job, der auf der Nomenklaturliste stand. Seit den frühen 80er Jahren war die Materie im Kollegiengesetz rechtlich geregelt. Seither gab es auch den Vorsitzenden der Anwaltskollegien. Als letzter dieser Vorsitzenden amtierte seit 1988 Gregor Gysi – mit entsprechend hochkarätiger Anbindung.

Nur Schlagerstars verdienten in der DDR mehr als Anwälte – sie kamen auf mindestens 100.000 DM brutto im Jahr, nach Abzug der „Umsatzsteuer“ und der Sozialbeiträge verblieben ihnen 50.000. Verschiedentliche Vorstöße aus der Parteileitung, dieser „Raffgier“ ein Ende zu machen, versandeten stets. Das Kollegium war, trotz eines Frauenanteils bis zu 25 Prozent, der Mentalität nach ein Männerklub. Man kannte sich, war auf Exklusivität bedacht. Wurde eine Stelle frei, so entschied der Vorsitzende über die Besetzung. Nominell bestand Zustimmungspflicht des Justizministeriums, aber stets war das Ergebnis der Rücksprache entscheidend, die der Kollegiumsvorsitzende mit dem Leiter der Abteilung „Recht und Staat“ bei der Bezirksleitung hielt. Mindestens zweimal im Jahr bekamen die Kollegen Besuch vom Justizminister oder einem hochrangigen Beamten des Ministeriums. Das war oft eine Formsache, manchmal aber auch mit Kritik an Kollegen verbunden, die „aufgefallen“ waren. Wie nicht anders zu erwarten, berichteten aus jedem der Kollegien IMs ihren Auftraggebern. Im Kollegium Gera oblagen sechs von fünfundzwanzig Anwälten dieser Tätigkeit. Zwei von ihnen ist nach 1990 die Zulassung entzogen worden.

Man mußte nicht unbedingt Mitglied der SED oder einer Blockpartei sein, um in ein Kollegium aufgenommen zu werden, aber es empfahl sich und war die Regel. In einigen wenigen Fällen schafften es Juristen aus dem Umkreis der Kirche, die im übrigen eine Zeitlang ihre eigenen Kirchenjuristen ausbilden durfte. Die Anwälte mußten auch – im Gegensatz zu den RichterInnen und StaatsanwältInnen – keine Verpflichtung unterschreiben, Westkontakte zu meiden bzw. zu melden. Viele der Anwälte vermieden es, Verfahren in politischen Prozessen, meist wegen „Republikflucht“, zu übernehmen. Sie pflegten ihre Spezialitäten. Rolf Henrich vertrat mittelgroße Firmen, besonders LPGs, vor den staatlichen Vertragsgerichten. Über Brigitta Kögler berichtet ihr Kollege, der IM „Karsten“: „Bei der Beratung und Vertretung der Bürger sieht sie manchmal noch zu sehr die individuellen Interessen derselben und beachtet nicht immer ganz die Bedeutung des demokratischen Zentralismus, insbesondere unseres staatlichen Interesses. Das kommt insbesondere auf dem Gebiet der Vertretung von Eigentums- und Steuerstrafsachen zutage.“ Wollte der Anwalt, so war also in bestimmten Bereichen Einsatz für die Mandanten möglich.

Das traf ganz und gar nicht auf politische Prozesse zu. „Wer das heute behauptet“, sagt Rolf Henrich, „versucht immer noch, einem Rotz an die Backe zu schmieren.“ In politischen Verfahren war der Anwalt gänzlich aus der Untersuchungsphase ausgeschlossen. Wenn er in diesem Zeitraum seine MandantInnen besuchte, waren nur Fragen zur Person gestattet. Die Anklageschrift durfte er erst nach ihrer Fertigstellung einsehen. Notizen waren erlaubt, Kopieren war ausgeschlossen. Mit dem Mandanten konnte dann im Beisein eines Ermittlungsbeamten gesprochen werden. Die Grundzüge des Urteils und das Strafmaß waren mit den Staatsorganen abgesprochen, in wichtigen Fällen mit der Bezirksleitung bzw. mit der zentralen Parteileitung der SED. Viele Häftlinge, vor allem „Republikflüchtige“, verzichteten von vorneherein oder nach einem hilfreichen Hinweis des Ermittlungsführers auf anwaltschaftlichen Beistand. Auch kam es oft vor, daß der Beschuldigte seinem Anwalt das Mandat nach einem „Fingerzeig“ entzog und auf den „richtigen“ Anwalt übertrug. Für Fälle von Republikflüchtigen hatte der Rechtsanwalt Vogel in jedem Bezirk Anwälte unterbeauftragt. Und für die übrigen Fälle wußte die Stasi Rat. Von freier Wahl der Verteidigung in politischen Verfahren konnte also kaum die Rede sein.

Was konnte, was mußte ein Anwalt in politischen Prozessen für seinen Mandanten tun? Er mußte ihm reinen Wein einschenken (daß der Prozeß keinen Einfluß auf das Urteil hatte), er konnte ihn, so gut es ging, informieren, und er konnte im Prozeß persönliche Verunglimpfungen und lügenhafte Behauptungen zur Biographie des Angeklagten zurückweisen. Selten genug war auch mehr drin. Henrich berichtet, daß er in den 80er Jahren in einem „Grufti-Prozeß“, wo Jugendliche die Wand einer Friedhofskapelle geschwärzt und ein schaurig-schönes Ritual abgezogen hatten, bei der Rechts- und Staatsabteilung der Bezirksleitung vorstellig geworden war. „Ein Dummerjungenstreich“, gab er zu bedenken, „alle Täter kommen aus staatstragenden Familien. Wenn ihr die Sache hochkocht, gibt es das Gegenteil einer abschreckenden Wirkung“. Er hatte Erfolg, der Schauprozeß gegen die „dekadenten Einflüsse aus dem imperialistischen Westberlin“ unterblieb, und die Strafen fielen milde aus. Aber solche Interventionen wollten wohl dosiert und mußten im Parteisinn gut begründet sein. Von Gregor Gysi sind Anstrengungen dieser Art nicht bekannt. Aus den Akten der Bezirksleitung Berlin der SED geht hervor, daß er in zwei Fällen die Genossen konsultierte, ob er Mandate übernehmen soll, beidesmal mit negativem Ergebnis.

Als es mit der DDR bergab ging, 1988, erhielten Brigitta Kögler und Rolf Henrich Berufsverbot, sie wegen eines vorgeblichen Meldevergehens, er wegen der Veröffentlichung seines „Der vormundschaftliche Staat“. „Niemand rührte sich, alle blieben stumm“ – so resümiert Frau Kögler die Haltung der Kollegen während der Ausschlußsitzung. Henrich wird drastischer. Bezogen auf die DDR-Anwaltschaft, urteilt er: „Fast alle waren Hosenscheißer.“ Binnen einer Stunde hatte Brigitta Kögler ihr zentral gelegenes Büro zu verlassen, der Vorsitzende des Kollegiums, der sie feuerte, unterhält dort heute seine Kanzlei. Ähnlich glatt ging das Verfahren gegen Rolf Henrich über die Bühne. In der Sitzung, die dem Ausschluß folgte, war Gregor Gysi zu Gast. Er summierte mögliche Anklagepunkte gegen seinen Freund und Kollegen: staatsfeindliche Verbindungsaufnahme, nachrichtendienstliche Tätigkeit, verfassungsfeindlicher Zusammenschluß. Der implizierte Schluß: Henrich war noch billig davongekommen. Nach der Sitzung ging er zu Henrichs Frau, auch eine Anwältin, und fragte aufmunternd „Na, Heidi, wie geht's denn so?“

In der Festschrift zur Wiedererrichtung des Oberlandesgerichts Jena im Jahr 1994 resümiert der Anwalt Siegfried Metz: „Die große Mehrheit der Anwälte hat sicher das getan, was nach Lage der Dinge getan werden konnte, so insbesondere den Bedrängten ein offenes Ohr geliehen, ihnen unter bestmöglicher Ausnutzung der gesetzlich auch damals verhandenen Möglichkeiten geholfen und – das wichtigste – das Anwaltsgeheimnis gewahrt.“ Das hat Alfred Metz, heute Vorsitzender der Anwaltskammer Gera, wirklich ernst gemeint.