■ Die Welt der Wirtschaft und die Welt des Sozialen driften immer weiter auseinander
: In eine neue Sklaverei?

Das eherne Gesetz des Marktes sagt, daß sich der Preis einer Ware nach dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage richtet. Das gilt auch für die Ware Arbeit. Schon zu Marx' Zeiten wußte man auch, daß der einzelne Arbeitnehmer gegenüber dem einzelnen Arbeitgeber keine Marktmacht hat, wenn ein Überangebot an Arbeitsfähigen besteht. Und man wußte ebenso, daß der einzelne Arbeitgeber, selbst wenn er wollte, keine wesentlich besseren Arbeitsbedingungen einräumen konnte, wenn seine Konkurrenz weiter Ausbeutung betreiben durfte.

Die Elendszeit des Frühkapitalismus war durch ein Überangebot von Arbeitskräften gekennzeichnet. Die Industrialisierung mit ihrem wachsenden Arbeitskräftebedarf, die Auswanderung von Millionen und Abermillionen von Wirtschaftsflüchtlingen aus Europa in die Neue Welt und vor allem die gesetzlich festgelegte und vom Staat kontrollierte Verkürzung der Tagesarbeitszeit auf acht Stunden führten in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zu einem für die Arbeitnehmer günstigeren Verhältnis zwischen dem Angebot von Arbeitskräften und der Nachfrage.

Auf diesem Fundament konnten dann die Gewerkschaften durch Kollektivverträge mit den Arbeitgebervereinigungen Arbeitsbedingungen und Löhne langsam auf das Sozialstaatsniveau der siebziger und achtziger Jahre unseres Jahrhunderts anheben.

Arbeitsbegrenzungen, Kollektivverträge und staatliche Kontrolle – also Regulierung – kennzeichnen somit den Weg vom Proletarier-Elend des Frühkapitalismus zum Sozialstaat der Bundesrepublik. Heute fordert Wirtschaftsminister Rexrodt, daß wir die Wirtschaft von ihren Fesseln befreien, daß wir deregulieren und privatisieren. Doch mit dieser „Modernisierung“ der Bedingungen der Wirtschaft schließt sich der geschichtliche Bogen. Der Kurs zeigt wieder zurück vom Sozialstaat zu den wirtschaftlichen Bedingungen des Frühkapitalismus. Der nächste historische Schritt wäre dann die Wiedereinführung der Sklaverei.

Weder die Vereinigung mit der DDR noch die schlechte Weltkonjunktur, noch irgendwelche Schurkenstreiche oder gar kapitalistische Weltverschwörungen können für diesen Weg zurück in die Zukunft verantwortlich gemacht werden. Es haben sich vielmehr objektive Zwänge und Bedingungen eingestellt, die die Entwicklung mehr und mehr festnageln. Das Dilemma sei hier grob skizziert:

1. Maschinen ersetzen menschliche Arbeit – und das nicht nur in der Produktion, sondern auch in den Dienstleistungen (Geschirrspülmaschine statt Tellerwäscher). So geht weltweit die Nachfrage nach Arbeit innerhalb der sich modernisierenden Wirtschaften durch Automatisierung, Rationalisierung, bessere Organisation der Arbeit zurück.

2. Das Angebot an menschlicher Arbeitskraft dagegen wächst und wächst. Es wächst aber nicht nur die Zahl der weltweit Arbeitsuchenden, sondern auch deren Qualifikation.

3. Hohes Angebot bei begrenzter Nachfrage senkt in einer Marktwirtschaft den Preis. Wird das Angebot unendlich groß, wird der Preis gleich Null. Werden alle Handelsbeschränkungen wirklich vollständig abgebaut, wie es das Ziel von Gatt ist, wird menschliche Arbeit deshalb schließlich weltweit so billig wie eine leere Coca- Cola-Dose, wird billig wie Dreck. So muß sich ein sozioökonomisches System, das auf moderner Industrialisierung und weltweitem Freihandel beruht, in einer Welt mit schnell wachsender Weltbevölkerung letztlich in einer sozialen Katastrophe selbst zerstören.

Nur, es ist wie mit dem Ozonloch: Das Problem verstehen und dem Problem angemessen handeln sind zwei sehr verschiedene Dinge. Die Welt der Wirtschaft hat ihre eigenen Gesetze, die niemand ungestraft verletzen darf. Die wirtschaftliche Todesstrafe, der Konkurs, droht oft schon für kleine Vergehen. Wer etwa nicht Teile seiner Produktion ins Billiglohnausland verlagert, wird früher oder später alle Arbeitsplätze in Deutschland abbauen müssen.

Dabei läuft die Konkurrenz auf zwei sehr unterschiedlichen Ebenen. Da ist einmal die Ebene der Konkurrenz zwischen den Industrienationen. Hier wirkt es sich aus, wenn die eigenen Arbeiter wie die von VW im Jahre 1993 auf rund 2,5 Milliarden Mark Lohn verzichten. Hier zahlt es sich aus, wenn man die Maschinenlaufzeiten verlängert, wenn immer mehr Arbeiter unter Entlassungsdruck bis zur vorzeitigen Verrentung schuften, um dann durch jüngere, leistungsfähigere ersetzt zu werden. Hier mögen auch einige Prozentpunkte Lohn schon einmal wichtig sein. Denn es geht um die Frage: Welches der Unternehmen in den alten Industrienationen überlebt seine Konkurrenz am längsten?

Doch hinter dieser schon beängstigenden Woge türmt sich ein noch viel höherer Brecher: die Bedrohung durch die Mondialisierung. Und hier wird alles falsch, was eben noch richtig war. Gegenüber dieser Konkurrenz ist es völlig gleichgültig, ob die deutschen oder die französischen Arbeiter ihren Gürtel enger und enger schnallen oder nicht – es gibt immer noch Millionen Arbeitshungriger in der Welt, die ihre Arbeitskraft billiger anbieten können. Wer dann für ein Unternehmen Verantwortung trägt, der wird wieder nicht umhinkönnen, seine billigen Arbeitskräfte durch noch billigere zu ersetzen.

So entwickeln sich zwei Welten immer weiter auseinander, die in einer glückhaften Periode der Weltgeschichte eng verflochten waren: die Welt der Wirtschaft und die des Sozialen. Der Staat, der beide Welten zusammenhielt und damit beiden diente, kann dies heute nicht mehr. Er verliert gegenüber der Wirtschaft schneller und schneller an Boden. Mit der weltweit wachsenden Macht des Sektors Wirtschaft wird der Preis immer höher, den die mit ihren Standortangeboten um die Unternehmen buhlenden Staaten und Gemeinden zahlen müssen, um ihren Bürgern noch einen Anteil an Produktion und Handel sichern zu können.

Es kann sehr wohl sein, daß diese Entwicklung unvermeidlich ist und die europäischen Sozialstaaten eine schöne Erinnerung werden. Ohne freie Diskussion der wirklichen Problematik in der Bevölkerung, in Presse, Rundfunk und Parteien wird sich niemals ein Ausweg öffnen. Für diese Diskussion sind folgende Fakten festzuhalten:

Soziale Ziele oder das Ziel der Erhaltung der Umwelt verfolgt der Markt nicht von selbst. Solche marktfremden Kriterien müssen ihm von außen, also politisch vorgegeben werden. Damit aber der Markt auch auf diese Ziele hinarbeiten kann, müssen sie für alle Marktteilnehmer gleichmäßig gelten. Nur wenn das sichergestellt ist, kann der einzelne Unternehmer zum Beispiel Umweltschutzkosten oder Behinderungen aus sozialen Gründen wie das Verbot der Sonntagsarbeit akzeptieren, ohne im Konkurrenzkampf zu unterliegen.

Das bedeutet aber: Die politische Macht, die dem Markt die Ziele setzt, muß ebenso weit reichen wie der Markt. Wird der Markt weltweit, kann deshalb nur eine Weltregierung ökologischer und sozialer Regulator des Marktes sein. Eine Weltregierung von 150 bis 200 Staaten völlig unterschiedlicher Interessen ist jedoch eine Illusion. Die meisten Nationalstaaten andererseits sind heute für diese Rolle längst zu klein geworden.

Wie in Frankreich sollten wir deshalb auch in der Bundesrepublik diskutieren, ob nicht große Wirtschaftsräume wie zum Beispiel Europa als selbständige Märkte behandelt werden müßten, für die eine politische Instanz der Wirtschaft die sozialen und ökologischen Ziele vorgibt. Zu solch einer Märktepolitik für sozialstaatliche Großregionen mit ökologisch verträglicher Wirtschaftsweise gehören zwangsläufig Regelungen des Marktzugangs für Importe von außerhalb, Schutzzölle sowohl gegen soziales wie ökologisches Dumping.

Die entsprechende Organisation anderer Großräume mit Staaten untereinander ähnlicher sozioökonomischer Struktur – zum Beispiel in Nordamerika, Ostasien, Nordafrika, aber auch Schwarzafrika – würde es diesen Regionen erlauben, ohne Behinderungen durch Weltbank oder Weltwährungsfonds oder mächtigere Wirtschaftspartner ihre jeweiligen spezifischen Schutzbedürfnisse zu befriedigen. Dazu gehört für Entwicklungsländer insbesondere der (heute von China geforderte) Schutz der sich erst langsam entwickelnden Industrie gegen Massenprodukte aus hochindustrialisierten Volkswirtschaften.

Vielleicht könnten so überall in der Welt lebensfähige und lebenswerte wirtschaftliche Bedingungen entstehen. Würde das gelingen, könnte sich dann aus den Erfahrungen des diplomatischen und wirtschaftlichen Verkehrs dieser Regionen miteinander auch eine „föderale“ Struktur für die Regelung der Probleme der Welt entwickeln. Eine „Weltregierung“, wenn man so will. Horst Afheldt

Vom Autor erschien zuletzt „Wohlstand für niemand?“ (1994).