■ Ein herzliches Willkommen der 1.200.000.000sten Chinesin
: Unterwegs mit Frau Wang

Es gibt kaum einen undankbareren Job in China als den der Geburtenkontrolleurin. Verzweiflung, Panik oder blanker Haß schlägt ihr entgegen, wenn sie ins Haus kommt und der Familie einer Schwangeren erklären muß, daß dieses Kind keinesfalls zur Welt kommen darf. Jeder weiß, daß sie wieder und wieder kommen muß, um die Familie zum Abbruch zu überreden. Sie – nennen wir sie Frau Wang – wird mit Bestrafung der Schwangeren, des Ehemannes und des noch ungeborenen Kindes drohen. Und vielleicht wird sie sich Hilfe holen, eine ganze Gruppe von Leuten, die dafür sorgen, daß die erschöpfte Frau schließlich in der Klinik landet und die Geburt eines lebenden Kindes verhindert wird.

So wurde die Geburtenrate seit den achtziger Jahren tatsächlich gesenkt, als die chinesische Regierung das Ziel einer 1,2 Milliarden nicht überschreitenden Bevölkerungszahl für das Jahr 2000 aufstellte. Diese Marke ist nun vorfristig erreicht, weil sich die Bevölkerung auf dem Lande trotz allem nicht davon abbringen ließ, mehr Nachkommen zu produzieren. Und deshalb wird sich Frau Wang in ihrem Dorf oder ihrer Kleinstadt besonders anstrengen müssen, „das Geburtenkonzept der breiten Massen grundlegend zu ändern“. Ihre Vorgesetzten werden jetzt wieder stärker aufpassen, ob sie ihre Quoten auch strikt erfüllt, und sie ermahnen, keinesfalls fünfe gerade sein zu lassen. Damit die GeburtenkontrolleurInnen mehr Erfolg haben können, gibt es wirtschaftliche Anreize: Frau Wang soll den Familien erzählen, daß die Regierung ihnen besseres Saatgut bereitstellt, wenn sie weniger Kinder bekommen, und daß sie mehr Informationen und technische Hilfe erhalten.

Frau Wang ist nicht zu beneiden, weil ihr die Versprechungen keiner abnehmen wird. Denn die Landbevölkerung weiß sehr gut, daß von all den Pekinger Subventionen stets nur ein sehr kleiner Teil tatsächlich ankommt. Also wird Frau Wang schärfer vorgehen und noch weniger Mitgefühl zulassen dürfen – falls sie solche Regungen überhaupt noch spürt.

Frau Wang ist sich ganz sicher, daß sie eine für das chinesische Gemeinwohl unersetzliche Tätigkeit ausübt. Sie teilt diese Sicherheit mit der überwältigenden Mehrheit der städtischen Chinesen und natürlich ihrer Regierung. Und wenn man ihnen vorrechnet, daß sich die chinesische Bevölkerung andernfalls binnen dreißig Jahren verdoppeln würde, dann wollen auch die Politiker bei uns die Pekinger Bevölkerungspolitik nicht mehr kritisieren – selbst wenn diese ihren Menschenrechtsvorstellungen nicht entspricht. Sonst hätten sie ja zu befürchten, daß sich viele Chinesen und Chinesinnen auch für Deutschland entscheiden, wenn sie einst aus ihrem überfüllten Land auswandern wollen. Jutta Lietsch