Die tiefe Sehnsucht der Regisseure

■ Auf der Berlinale war nichts so präsent wie die deutsche Vergangenheit. Eine neue Opferperspektive schob sich über die letzten dreißig Jahre - und gnädigerweise gleich ein bißchen weiter zurück

Die tiefe Sehnsucht der Regisseure

Eine Zeitlang sah es so aus, als wäre der deutsche Film nur per Komödie in der Lage, sich mit dem Fall der Mauer zu beschäftigen. Als hätte man den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht, wurde über die Teilung schon gelacht, bevor sie beheult wurde. Erst im Rückblick fällt auf, wie häufig diese Komödien vom Doppelgängermotiv lebten, vom Meier hier und dem Meier dort, von Zwillingen also, die schon die Natur als eins im Sinn gehabt hatte.

Margarethe von Trottas inzwischen allgemein als zu leichtgewichtig abgetanes Mauer-Melodram „Das Versprechen“ eröffnete eine Berlinale, auf der es – nicht nur, aber vor allem in den deutschen Beiträgen – um die Innenarchitektur der Wiedervereinigung ging. Wer sich darin wie positioniert hat, wer in der Geschichte, die dem Mauerbau vorausging und folgte, auf welcher Seite stand, darum wurde unter zum Teil erheblichem Materialaufwand verhandelt.

Um gleich mit dem Gröbsten ins Haus zu fallen: Es scheint, als schöbe sich, langsam, aber sicher, eine neue Opferperspektive über die letzten dreißig Jahre, die natürlich von dort aus gnädigerweise auch noch ein bißchen weiter rückwärts reichen wird, wenn man sich nur lange genug nach der Decke streckt: Sophie und Konrad (beide Namen mit dem Widerstand gegen Hitler beziehungsweise gegen die DDR-Regierung konnotiert), die verhinderten Liebenden in „Das Versprechen“ sind kaum von ihren jeweiligen Systemen berührt; wie schon Peter Schneiders „Mauerspringer“ könnten sie die Seiten wechseln und würden doch stets sie selbst bleiben, kleine Leute, die lieben wollen und sonst gar nichts, und die dafür gegen russische Panzer anrennen wie Jesus gegen die Pharisäer. Wenn dann der Vater der wegen einer Protestaktion angeklagten Pastorin Barbara zum Gerichtsdiener sagt: „Sogar in der Nazizeit, als ich abgeurteilt wurde, durften meine Eltern an der Verhandlung teilnehmen“, sagt der Beamte ungerührt: „Na sehen Sie, wir leben eben nicht mehr in der ... Sagten Sie: Nazizeit?“. Ganz so, als wollte er hinzufügen: jetzt werden andere Seiten aufgezogen. Was um alles in der Welt könnte jemand wie Margarethe von Trotta für ein Interesse daran haben, einen solchen Unfug zu präsentieren? Will sie eine Schuld an der Ignoranz der westdeutschen Linken abtragen, die „von alledem nichts gewußt“ haben wollte, von den Stricken, die die Stasi angeblich ihren Systemgegnern schickte? Wohl noch mehr: bis in die einzelnen Sprachfiguren gleicht diese Apologie derjenigen ihrer Eltern, die auch nur kleine Leute waren und nichts gewußt haben und an denen man sich 1968 noch viel mehr versündigt hat als an den armen Ostlern.

Wurde einem in „Das Versprechen“ schon etwas eigentümlich bei der Benutzung gewisser Bilder von verhungert aussehenden Menschen hinter Stacheldraht, auf die rücksichtslos geschossen wird, erstaunte man gänzlich bei Herbert Achternbuschs Wettbewerbsbeitrag „Hades“, bei dem er selbst einen Beerdigungsunternehmer gibt, der, als er von Nazis niedergestreckt wird, im Sterben seine Geschichte erzählt. Es ist die eines Jungen aus dem Warschauer Ghetto, die Achternbusch mit den bekannten SS-Aufnahmen unterlegt, zwischen die er nur einige eigene Zeichnungen schneidet, die gleichfalls etwas Kindlich-Unschuldiges haben. Das Münchener Künstlerghetto und das Warschauer Ghetto werden so übereinander gelegt; gewiß: schön war beides nicht.

Edgar Reitz wiederum, der durch „Heimat“ und „Die zweite Heimat“ bekannte Chronist des Hunsrück und seiner ins Münchener Künstlerghetto entlaufenen Odysseuse überraschte mit einem ästhetisch recht kunstgewerblich geratenen Beitrag zum hundertsten Geburtstag des Kinos, der sich ausschließlich mit dem deutschen Film beschäftigte. Bei geschickt versammelten kurzen Statements von Kluge, Beyer, Schlöndorff, Syberberg, Wenders, Riefenstahl, Herzog und anderen bis hin zu Buck wurde erstaunlicherweise deutlich, daß der Nazi-Unterhaltungsfilm das eigentliche Gravitationszentrum des deutschen Films war, zu dem hin und von dem weg sich alles andere entwickelte. Die Filmbeispiele aus „Immensee“ oder „Opfergang“ scheinen sämtlich dazu angetan, vor allem die von Kluge entdeckte „tiefe Sehnsucht“ als Konstante zu etablieren.

Apropos Sehnsucht: Volker Koepp, ein ehemaliger Defa- Dokumentarfilmer aus Stettin, hat das Land zwischen Weichsel und Memel aufgesucht, das siebenhundert Jahre lang das der Pruzzen war und in dem heute Deutsche, Letten, Polen, Russen und Juden – so legt es jedenfalls der Film nahe – beispielhaft harmonisch zusammenleben. Dabei fragt Regisseur Koepp sehr detailliert nach der Produktion von Königsberger Klopsen, nach der Vertreibung, vor allem aber nach der Nationalitätenpolitik Josef Stalins, wogegen ja beim besten Willen nichts einzuwenden ist.

Aber die Tatsache, daß auch in dieser Gegend Massenvernichtung an Juden stattfand, kommt in den ganzen zweieinhalb Stunden ein einziges Mal, mehr oder weniger unabsichtlich am Rande bemerkt vor. „Ach wissen Sie,“ konterte der Regisseur gereizt auf eine entsprechende Zuschauerfrage, „wir sind einfach dahin gefahren und haben ein paar nette Leute getroffen, das ist alles“.

Im Gefolge von „Schindlers Liste“ gab es einige Filme, in denen die Deutschen dadurch zu Opfern werden, daß sie Juden retteten. Wie schon in „Das Versprechen“ spielt der christliche Glaube als Motiv eine heftige Rolle: Die Bauernfamilie bei Mauthausen, die aus dem Lager geflohene russische Offiziere bei sich aufnimmt, erfährt in der Kirche, daß eine Haussuchung naht; die meisten Protagonisten in Marek Halters „Die Gerechten“, sind Katholiken; die Stasi-Opfer in Peter Voigts sogenanntem Heimatfilm „Der Ort die Zeit der Tod“ bekommen ein Kreuz im Wald bei den Mecklenburgischen Seen aufgestellt.

Das einzige Beispiel für eine wirklich gelungene Auseinandersetzung mit Geschichte und post- kommunistischer Gegenwart war der Streifen „Er nannte sich Hohenstein“. Es ist das Porträt eines deutschen Amtskommissars im besetzten Polen, das sich auf Filmaufnahmen des Mannes stützen konnte, die unter anderem zeigen, wie jemand zugleich polnische Häuser als Misthaufen bezeichnen, Juden höflich grüßen, Deportationen entsetzlich finden und einer Hinrichtung beiwohnen kann, ohne in unauflösliche Widersprüche zu geraten.