Ein Was oder ein Wer?

Als wäre sie mutterseelenallein auf der Welt: Jodie Foster ist die Frau aus den Wäldern in „Nell“  ■ Von Anke Westphal

Die Wälder von North Carolina sind dunkel und weit. Freudianische Meßglöckchen klingeln, wenn die Kamera über den Appalachen schwebt: Mutterleib, der alles verschlingt, schöne Bedrohung, bevölkert vermutlich von wilden Tieren, seltsamen Wesen, Feen und Gnomen. Eines Tages fällt in einer Waldhütte eine greise Einsiedlerin um, patscht sich noch eine Margarite auf jedes Auge und ist mausetot. Sheriff Peterson (Nick Searcy) und Dr. Lovell (Liam Neeson) aus dem nächstgelegenen Städtchen holen die Leiche ab, plötzlich animalisches Heulen aus einem Verschlag. Das ist Nell (Jodie Foster), die Tochter der Einsiedlerin. Niemand hat gewußt, daß Nells Mutter nach einer Vergewaltigung Zwillinge zur Welt brachte. Das zweite Mädchen starb. Die Mutter litt unter einer Lähmung des Sprachzentrums – für die Bürger des Örtchens eine brabbelnde und in bedauernswert primitiven Umständen, ohne Elektrizität, Wasser und Gas, lebende Person. Zivilisationstechnisch beurteilt präfötal, aber harmlos und auch weit genug entfernt: Stört nicht. Dieses „wild thing“ aber ist zu sensationell, als daß man es in Ruhe lassen könnte, wie man nicht nur an Rousseau oder dem Fall Kaspar Hauser, sondern zum Beispiel später auch bei Truffaut und seinen Wolfsjungen sehen konnte. Nell „spricht“, was die Mutter ihr beizubringen vermochte, ein Kauderwelsch aus Lauten. Folge: Niemand versteht sie. Spricht Nell überhaupt? Böse Folge: Ist Nell intelligent, fähig zu denken? Noch bösere Folge: Ist Nell ein Was oder ein Wer? Hanebüchene Geschichte, denkt man, und hat bitter unrecht, denn mindestens eine wirkliche „Nell“ gibt es derzeit.

Oder muß man schon schreiben, es gab sie? Genie, ein Mädchen aus Los Angeles, war 13, als man sie kürzlich auf ein Kindertöpfchen gebunden in einem Keller fand. Schnell geriet sie in die Maschinerie einer ehrgeizigen Wissenschaft und verschwand, als die Forschungsgelder ausgingen – in irgendeiner Anstalt. Daß Regisseur Michael Apted („Gorillas im Nebel“) und Koproduzentin Jodie Foster nicht auf den Fall „Genie“, sondern einzig auf Mark Hendleys Bühnenstück „Idioglossia“ zurückgegriffen haben wollen, läßt zumindest einen Schluß zu: Sie erfinden mit „Nell“ eine weitere Version der reinen Unschuld und führen ihre Geschichte zu einem wunderbaren Ende. Man hält es – aus Sentimentsgründen? – sogar für wünschenswert. Aber Leben ist nicht immer wie Kino, und auch die Spekulationen darüber, ob „Superwoman“ Foster sich in dieser Rolle eines Primärgeschöpfs selbst therapiert, werden wohl wieder verstummen. Was ist Nell? Das Wort „Mensch“ bringt nicht einmal der Wald-und-Wiesen-Doktor Jerome Lovell über die Lippen, dabei baumelt dem doch morgens das Christenkreuz hübsch augenfällig auf seiner nackten Männerbrust. Natürlich halst sich Lovell die Verantwortung für Nell auf. Man könnte auch behaupten, er maßt sie sich an. Paula Olsen (Natasha Richardson) ist da zunächst eindeutiger dran. Die Psychologin bastelt fleißig an der Karriere, und Nell paßt da prima rein. Alles klar? Konkurrenz um das Material Mensch. Nun könnte man fortfahren mit dem Behaupten und Ableiten, zum Beispiel, daß „Nell“ ein melodramatisch-philosophischer Thesenfilm ist. Fortschritt und Zivilisation gegen wilde Ursprünglichkeit. Große, böse Welt gegen reines Herz. Kurzum, Hollywood stellt wieder mal die ganz großen Grundsatzfragen – da kann am Ende eigentlich nur optisch passabler Käse rauskommen.

Ganz falsch ist das nicht, aber auch nicht ganz richtig. Jodie Foster, Yale-promoviert, Verfasserin von Short Stories, zwei Oscars, rettet den Film unbedingt vor dem Ersaufen in Botschaften. Jodie Foster, die verbiesterte Gegnerin jeglichen „Method Acting“, übersetzt den Passionsweg einer solipsistischen Existenz in die Welt – ein herbes Kunst-Stückchen. Just vor einer Woche wurde sie wegen ihrer „Nell“ für einen dritten Oscar als beste Hauptdarstellerin nominiert. Und das zu Recht, zu Recht, tätärätä, und keineswegs, weil sie für die Rolle 13 Pfund abgespeckt hat. „Nell“ zieht unter dem Motto „wichtig“ in die Kinos. Selbst Fosters übliche deutsche Synchronsprecherin wurde vom Platz verwiesen, weil sie das „Nellisch“ nicht angemessen krächzen konnte. Jodie Fosters Nell irritiert als ebenso komplexe wie abstrakte Figur, pragmatisch und – nicht pathologisch, sondern schlichtweg bedingt durch ihr isoliertes Leben – solitär. Ein Psychologieprofessor pocht auf schizophrenen Autismus, offenbar die – 'tschuldigung – Filmseuche dieser Saison. Doch einerseits ist Nell ganz fragile Fee, andererseits eine absolut vernünftig handelnde Frau, die näht, ihr Feuerholz klein macht und die Hütte nur nachts verläßt, weil die vergewaltigte Mutter ihr beigebracht hat, daß sie nachts unsichtbar, also geschützter ist. Foster spielt in Nell zwar den reinen Geist, das übergreifend Gute, aber auch die reinen, nicht wegsozialisierten Affekte. Wenn Nell Angst hat, schreit und brüllt sie. Als sie zum erstenmal Musik hört, einen tieftraurigen Song von Patsy Cline, heult sie, daß es einem die Kontaktlinsen wegspült. Foster wiegt den Körper hin und her, aufsteigende Angst, einen blinden Glanz in ihren Augen. Sie reißt die Arme über den Kopf, Überschwang, schmiegt eine Hand an die Wange, Vertrauen. Das U.S.-Kinomagazin Premiere verglich Fosters Bewegungen mit denen der Tänzerin Martha Graham. Auch Foster stilisiert das Gefühl in der Bewegung; auch ihre Überzeichnung macht Sinn, auch wenn die melodramatische Komponente manchmal schwer zu ertragen ist. – Wie in jener Szene, als Nell vor Story-geilen Reportern in Sicherheit gebracht werden soll und durch das Herausreißen aus ihrer vertrauten Umgebung traumatisiert wird. Olsen und Lovell fahren mit Nell in eine Klinik. Wolkenkratzer, Highways, Chrom, Stahl, Beton – die fremden Bilder rasen durch eine taumelnde, wirr mit dem Kopf wackelnde Nell – von Sinnen, völlig überfordert. Medizinische Geräte werden an ihr vorbeigeschoben, sie halluziniert ihre tote Zwillingsschwester, prallt gegen eine Glasscheibe, verfällt in Pseudo-Stupor. Emotional spinnwebfein an der Grenze, dabei vollkommen einsichtig. Genau so kann es passieren, und zwar mit uns, mir, Ihnen, bitte sehr.

„Nell“ vermeidet jedoch, gottlob, jede platte Wissenschafts- und -schaftlerfeindlichkeit. Die Frage ist einfach, wer denn um alles in der Welt darüber befinden soll, was ein „angemessenes, ein besseres Leben“ ist. Die Kraft ihrer Instanzen operierende Wissenschaft? Ein sogenanntes unabhängiges, aber natürlich in der Zivilisation befangenes Gericht? Nell selbst, die zwar im Wald wunderbar klarkommt, aber durch ihre Unkenntnis anderer Codes gefährdet ist, ohne daß ihr das bewußt sein kann? Nell, die – als Figur vielsagend asexuell angelegt – nichts davon weiß, daß ihre Brüste für die blöden Kerle im Billardsaal „Titten“ sind?

Der Film löst das eigentlich unlösbare Problem als Märchen. Vor Gericht und unter dem Damoklesschwert der drohenden Klinikeinweisung kann Nell plötzlich für sich selbst sprechen. Dabei möchte man meinen, daß sie doch allerhand mitgemacht hat, hm? Dr. Lovell dolmetscht sie. Man erfährt nicht, wie er ihre „Sprache“ gelernt hat. Geschenkt. Interessanter ist, daß die „Reinheit und Authentizität dieser Figur“ (Foster) zum Korrektiv aller erhoben wird: der letztlich auch nur von Schuldgefühlen, Eifer- und Profilierungssucht und allerlei Dekompensationen angetriebenen Barmherzigen, Ehrgeizigen, Unabhängigen, Guten sowie Bösen. Irgendwie sind alle ein kleines bißchen gleich, und selbst die bösen Kerle im Billardsaal schämen sich ein kleines bißchen. Ein Wunschtraum, aber warum nicht? Der Barmherzige und die Ehrgeizige relativieren ihre Extreme, indem sie sich, ganz langsam, einander annähern. Sie gründen eine Familie und haben eine Tochter. Nun ja, bißchen viel auf einmal, aber warum eigentlich nicht? Nell darf in der Hütte bleiben. Why not? Jodie Foster und Michael Apted vermeiden es tunlichst, aus Dr. Lovells kleiner Sympathie für Nell etwas zusammenzuklitschen. Es gibt in „Nell“ einen wunderschönen Nebenstrang über den Sheriff Peterson und seine emotional instabile, gefährdete Frau. Sie ist gar nicht so weit von Nell entfernt, und auch die anderen „Normalen“ sind es nicht. „Nell“ steht als etwas manierierte Utopie im Raum – ein mißtrauisches Lebensmärchen, halb aus Spitze und halb aus Polyester, aber wundervoll auf Breitwand gezogen. Etwas – man merkt es immer zu spät –, das man unbedingt braucht und von dem man eigentlich mehr braucht. Und man merkt auch zu spät, daß Jodie Foster mit jedem ihrer Filme etwas mehr in einem sehr schönen, sehr fremden, komplizierten, subtilen Geheimnis verschwindet. Aber dagegen kann in diesen Zeiten wohl niemand ernstlich etwas einwenden.

„Nell“, Regie: Michael Apted. Mit Jodie Foster, Liam Neeson, Natasha Richardson, Nick Searcy u.a., USA 1994, 115 Min.