Denkfehler im Nordirland-Plan

■ Die Euphorie nach dem anglo-irischen Papier kann nicht über die grundlegenden Probleme hinwegtäuschen

Dublin (taz) – Euphorie fast allerorten – so fielen gestern die Reaktionen auf das anglo-irische Diskussionspapier für Nordirland aus, das am Mittwoch in Belfast vorgestellt worden war. Eine neue Phase im Friedensprozeß werde eröffnet, meinte der Vorsitzende der Sinn Féin, des politischen Flügels der Irisch-Republikanischen Armee (IRA). EU-Kommissionspräsident Jacques Santer sprach von einem „wichtigen Schritt in Richtung Frieden“ in Nordirland. Und US-Präsident Bill Clinton gratulierte dem britischen Premierminister John Major und seinem irischen Amtskollegen John Bruton zu ihrem „mutigen Schritt“.

Zustimmung auch in Großbritannien und der Republik Irland. Zum ersten Mal seit Monaten wußte Major seine Partei geschlossen hinter sich. Lediglich von Nordirlands Unionisten kamen drohende Töne: Der anglo-irische Rahmenplan sei „eine Einbahnstraße zu einem vereinigten Irland“, sagte der Protestantenpfarrer Ian Paisley, und William Ross, der stellvertretende Vorsitzende der gemäßigteren Ulster Unionist Party, stieß ins selbe Horn: Er warnte Major, daß die unionistischen Unterhaus-Abgeordneten der Tory-Minderheitsregierung ihre Unterstützung entziehen würden. So weit werden sie denn doch nicht gehen, glauben die meisten Beobachter, denn bei deutlichen Mehrheitsverhältnissen nach Neuwahlen würden sie ihre starke Verhandlungsposition einbüßen.

Aber auch außerhalb des unionistischen Lagers mehrten sich gestern skeptische Stimmen – besonders anschaulich war die von Martyn Turner: Seine Karikatur auf der Titelseite der Irish Times zeigte Major und Bruton, die einen leeren Rahmen halten. Beide stehen auf einem Berg von Gebeinen, Stacheldraht und Grabsteinen, auf denen die gescheiterten Friedensinitiativen des vergangenen Vierteljahrhunderts eingraviert sind.

Joe Lee, Professor für moderne Geschichte an der Universität Cork, stellt nüchtern fest, daß es „für die Autoren des Dokuments vermutlich ein großer Fortschritt wäre, wenn Nordirland ruhig genug gestellt würde, damit es an den Rand gedrängt werden könnte, anstatt so oft im Mittelpunkt der Beziehungen zwischen beiden Ländern zu stehen.“ Lee weist auf einen fundamentalen Denkfehler in dem Papier hin: „So wortgewandt es das Prinzip der Selbstbestimmung auch beschwört“, sagt er, „so wendet es dieses Prinzip ausschließlich auf die Landesgebiete an, nicht aber auf die beiden unterschiedlichen Traditionen.“ Wie stets in der britischen Nordirlandpolitik, moniert Professor Lee, werde das Selbstbestimmungsrecht von der zahlenmäßigen Überlegenheit abhängig gemacht. Davon könnten freilich auch die Unionisten betroffen sein, die jetzt noch in der Mehrheit sind: „Wenn 900.000 Unionisten nicht in ein vereinigtes Irland gezwungen werden sollen“, fragt Lee, „warum soll das dann mit 700.000 Unionisten geschehen dürfen?“

Dieser Punkt beunruhigt offenbar auch die Unionisten am stärksten. Ihr Unterhaus-Abgeordneter David Trimble, der am Mittwoch wutentbrannt aus einem Fernsehstudio stürmte, weil Sinn-Féin-Vizepräsident Martin McGuinness per Satellitenleitung hinzugeschaltet werden sollte, tat die angekündigte Verfassungsänderung als bedeutungslos ab: Selbst wenn die irische Regierung ihren Anspruch auf Nordirland aufgebe, bliebe doch der Wunsch nach einem vereinigten Irland. Sein Kollege Chris McGimpsey forderte kurzerhand höhere Hindernisse für ein vereinigtes Irland: Es müßten schon 65 oder 70 Prozent dafür stimmen, nicht nur eine einfache Mehrheit.

So einig sich fast alle Kommentatoren gestern waren, daß der Friedensprozeß nur im Schneckentempo vorankommen wird, so sehr könnte es doch eine neue Dynamik bringen, wenn Peter Spencer von Sky-TV mit seiner Prognose recht hätte, daß die IRA in den nächsten Wochen, vielleicht sogar Tagen, ihr Waffenarsenal herausrücken wird. Die Unionisten wären dann in Zugzwang. Ralf Sotscheck