Mit halber Geschwindigkeit ins neue Zeitalter

■ Japan läßt sich Zeit auf der Datenautobahn: Noch ist den Firmen nämlich gar nicht klar, wie mit den neuen technischen Möglichkeiten Geld zu verdienen ist

1971 veröffentlichte das damals noch recht wenig bekannte japanische Wirtschaftsministerium (MITI) einen Aufruf: „Vorbereitung auf die Informationsgesellschaft“. In diesem Papier begründete das MITI seine moderne Industriepolitik. Die Erfolge dieser Politik sicherten Japan in den achtziger Jahren einen Vorsprung in den relevanten Technologien, den man aber in den meisten Bereichen heute bereits wieder eingebüßt hat.

Insofern begleitet Japan die Brüsseler Gespräche als erfahrene, aber keinesfalls übermächtige Technologiemacht. Entsprechend distanziert hat der japanische Postminister Shun Oide das Ziel des G-7-Treffens in Tokio der Öffentlichkeit vorgestellt: Man wolle dort ein Versprechen der Clinton-Administration einlösen, welche ihren Wählern die Datenautobahn als großes Zukunftsprojekt verkauft hätte.

Im Grunde verschmäht auch die Tokioter Regierung die Beschwörung des Multimedia-Zeitalters nicht – sie lenkt von der fälligen kritischen Standortdebatte in Japan ab. Doch möglicherweise noch tiefer als in Europa sitzt in Japan die Angst vor der amerikanischen Dominanz: Die US-Regierung wolle mit ihrer G-7-Initiative die Entstehung nationaler Multimediamärkte zu einem Zeitpunkt verhindern, wo amerikanische Firmen in den Technologien noch führend sind – so lautet zumindest das Urteil des MITI.

Sein Chef Ryutaro Hashimoto, ein in vielen Handelskonflikten erprobter Widersacher des amerikanischen Wirtschaftsliberalismus, begleitet deshalb Postminister Oide nach Brüssel, um dort Washington abzubremsen und EU- Europa zu beruhigen. Klare Frontstellung wird die japanische Regierung gegen weitgehende Deregulierungsvorschläge der Amerikaner beziehen, welche eine nationalstaatliche Lenkung der betroffenen Industrien in Zukunft unmöglich machen würde. Gleichzeitig aber werden Hashimoto und Oide ihre europäischen Kollegen vor einem übertriebenen Unterlegenheitsgefühl gegenüber einer scheinbar vorauseilenden US-Industrie warnen: Datenautobahnen samt Multimedia-Anwendungen gehören zwar in die Zukunft, aber diese Zukunft hat Zeit – das ist die Botschaft des MITI und seiner gut befreundeten Unternehmen wie zum Beispiel Sony und Matsushita.

Mit großen Schlagzeilen haben japanische Wirtschaftszeitungen deshalb in den vergangenen Wochen vermeldet, daß einige der vielgepriesenen Multimedia-Allianzen zwischen amerikanischen Computer-, Fernseh- und Telefonfirmen bereits wieder in die Brüche gegangen sind. Sony und Matsushita haben hier in den letzten Jahren sehr viel vorsichtiger operiert. Das muß zunächst überraschen, denn beide Konzerne haben sich mit dem (im Fall Sonys äußerst verlustreichen) Aufkauf weltberühmter Hollywood-Studios in eine günstige Ausgangsposition für Multimedia gebracht. Doch alle weiteren Strategieentscheidungen haben die beiden Firmen bislang aufgeschoben. Der Grund ist einfach: Niemand weiß bisher, wo sich mit Multimedia das große Geld verdienen läßt. Vor allem die Verbraucher in Japan ziehen bisher nicht mit.

So haben die ersten Feldversuche des MITI für die Anwendungsmöglichkeiten der neuen Technologien frustrierende Resultate erbracht. In Kioto nehmen zur Zeit mehrere hundert Familien an einem dreijährigen Testprogramm teil. Kürzlich erzählten die Hachimarus, eine typische japanische Kleinfamilie, dem Wirtschaftsblatt Nihon Keizai, wie „nutzlos und uninteressant“ all die ihnen angebotenen Dienste abrufbarer Videoprogramme seien. Selbst das neue Bildtelefon wurde von den Hachimarus kaum benutzt – weil man den Gesprächpartnern ja auch sonst nicht in Hauskleidung unter die Augen trete.

In den japanischen Firmenzentralen werden solche Stimmungen ernstgenommen: „Niemand kann heute sagen, wer morgen mit welchen Produkten der Sieger sein wird“, erklärt Shigehiro Funatsu, Leiter der Multimedia-Abteilung beim größten japanischen Computerhersteller NEC. Die jüngst verkündete „Multimedia-Geschäftsstrategie“ von NEC sieht dementsprechend bescheiden aus: Da ist zwar viel von einer „neuen Unternehmenskultur“ und „Networking“ die Rede, doch konkrete Projekte oder gar Produktideen gibt es kaum. Georg Blume, Tokio