Die Kolonialisierung der Köpfe

Sucre ist eigentlich die Hauptstadt Boliviens. Und in Sucre steht die größte Hutfabrik des Landes. Sie liefert die Hüte der indianischen Frauen in unterschiedlichster Form und Farbe  ■ Von Dirk Bruns

Der richtige Weg für den, der immer noch früh genug ans Ziel kommt“, schreibt Walter Benjamin in seinen „Städtebildern“, ist das Sichtreibenlassen, das Verirren wie in einem Wald. Die Stadt werde zum Labyrinth, das die Heimat des Zögerns sei, wo in dem Vergangenen die Vorzeichen der Zukunft aufscheinen, die Gewohnheit noch nicht ihr Werk getan habe und der Erwachsene im staunenden Blick wieder zum Kind werde. Für diese Form der Annäherung eignet sich die Stadt Sucre. Sie liegt in den bolivianischen Anden auf 2.710 Metern Höhe. In der geographischen Abgeschiedenheit, ja fast Isoliertheit hat die überschaubare Stadt mit ihren 110.000 Einwohnern ein ruhiges Tempo bewahrt.

Der alte Stadtkern: neoklassische und barocke Fassaden, meist weiß getüncht, und schachbrettartig strukturiert. Immer wieder stößt man auf kleine Gassen, Kirchen, auf kunstvoll mit Säulen gestaltete Straßenecken und kleine Plätze, Einblicke in Patios, schmiedeeiserne Balkons und mit Stuck verzierte Fenster aus der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie geben Sucre ein andalusisches Flair. Die Stadt ist wie Rom auf sieben Hügeln errichtet. Die umliegenden Berge, die vielen Kirchen der alten Stadt mit ihren Glockentürmen bieten dem Betrachter ein eindrucksvolles Panorama.

Mittelpunkt der Stadt ist der Platz „25 de Mayo“. Unübersehbar zeigt der ehemalige Regierungspalast, die heutige Präfektur, mit seiner weißen Renaissancefassade und einem überdimensionalen Staatswappen, daß Sucre früher zu mehr bestimmt war. Sucre war die Hauptstadt Boliviens, und formell ist sie es immer noch – auch wenn La Paz den Regierungssitz und das faktische Machtzentrum bildet. An der gegenüberliegenden Seite des Platzes steht das Freiheitsmuseum, Casa de la Libertad, in dem Schulkinder mit ihren einheitlichen Uniformen in ordentlichen Zweierreihen die Portraits der großen Freiheitshelden bestaunen und andächtig den Ausführungen ihrer Lehrerin lauschen: „Sucre ist die Wiege der Freiheit. Hier ertönte am 25. Mai 1809 der berühmte erste Ruf nach Freiheit, und nach dem heroischen, 16 Jahre dauernden Befreiungskrieg gegen die Spanier wurde an diesem Ort am 6. August 1825 die Unabhängigkeitserklärung unterschrieben. Unser Staat erhielt den Namen des großen Simón Bolivar. Die 1538 gegründete Stadt La Plata wurde Hauptstadt und nach dem tapferen Marschall Antonio José de Sucre benannt.“

Im Schatten der Palmen, der Lorbeer- und Gummibäume treffen sich die indianischen Cholos, die Mestizen und die Weißen. Die Siesta ist beendet. Jetzt flanieren sie oder sitzen auf den Holzbänken und plaudern. Neben den Schuhe putzenden Kindern in zerrissener Kleidung und den Süßigkeitenverkäufern sitzen die Veteranen des Chaco-Krieges. Sorgfältig herausgeputzte Kinder füttern die Tauben, die immer wieder aufflattern und auf das Denkmal des Marschalls Sucre fliegen. SchülerInnen und StudentInnen schlendern nach alter Tradition um den Platz – die Jungen im Uhrzeigersinn, die Mädchen in entgegengesetzter Richtung. Auch nachts sitzen noch Studenten unter den Laternen und büffeln ihren Uni-Stoff. Nach Landessitte bedeutet dies auswendig lernen. „Viele von uns haben kein eigenes Zimmer, in dem wir in Ruhe arbeiten können. So suchen wir uns einen geeigneten Platz wie zum Beispiel tagsüber den Bolivar- Park, und abends kommen wir hierher“, erklärt der 21jährige Jurastudent Jaime aus Potosi. Tatsächlich trifft man überall auf StudentInnen, die an der 1624 gegründeten Universität San Francisco Xavier immatrikuliert sind. Viele SucrenserInnen nennen ihre Stadt gern „ciudad culta“ (gebildete Stadt), und tatsächlich wurde sie lange Zeit als „Hirn des Vizekönigtums Rio de la Plata“ (José Ingenieros) und „Werkstatt der Revolution“ bezeichnet.

Revolutionäre Gedanken sollten auch das Bildungswesen erfassen. So ernannte Präsident Bolivar Simón Rodriguez 1825 zum Bildungsbeauftragten, der in Sucre eine Modellschule eröffnete. Kinder der Privilegierten und der Cholos, Mädchen und Jungen sollten gemeinsam unterrichtet und auch im Handwerk ausgebildet werden. Rodriguez' Ansatz scheint immer noch aktuell: Die Analphabetenquote ist hoch, das Niveau zwischen privaten und öffentlichen Schulen unterscheidet sich sehr. „Allen Menschen ohne Unterschied der Rasse oder Hautfarbe muß Bildung zuteil werden. Ohne allgemeine Volksbildung entsteht keine Gesellschaft. [...] Auch Mädchen sollen einen Beruf erlernen, damit sie in der Not nicht huren müssen. Wer nichts weiß, kann von jedem betrogen werden.“ Rodriguez scheiterte mit solchen Idealen. Unter dem Druck der Wohlhabenden und der katholischen Kirche, in deren Händen die Schulen vor 1825 waren, mußte er bald zurücktreten. „Bis heute existiert der starke moralische Einfluß der katholischen Kriche“, erzählt Gerd Mielke. Er lebt seit vielen Jahren in Sucre und leitet das Centro Cultural Boliviano Alemán, einem lebendigen Veranstaltungsort mit Café.

Mielke ist scharfer Kritiker der Kirche. „Sie hat die Indios von ihren ursprünglichen Lebensweisen entfernt“, sagt er, „und sie läßt die Menschen zu Heuchlern werden. So ist zum Beispiel Abtreibung offiziell verboten und verpönt. Unter der Hand wird sie jedoch oft von Kurpfuschern betrieben. Ebenso gilt der Ehebruch als Sünde. An den üblichen Männerabenden (viernes de soltero) brüsten sich die Freunde jedoch beim Glas mit ihren Frauenerfolgen.“

Die Cholas, die Quechua- Frauen, in ihrer traditionellen Kleidung trifft man vor allem auf der Plaza 25 de Mayo oder außerhalb des fast musealen Zentrums der „Weißen Stadt“ – dort wo die Adobehäuser oft keinen Wasser- und Stromanschluß besitzen und der Müll zum Himmel stinkt. Über den polleras, den langen Röcken, tragen sie wollene chompa, Pullover, und das ahuayo, das farbenfrohe, um den Hals gebundene Tuch. Alle erdenklichen Sachen und nicht zuletzt Babies können darin stecken.

Charakteristisch sind jedoch vor allem ihre englisch anmutenden Hüte. Sie erinnern an die Bowlerhüte der Londoner Banker. Die Hüte zeigen die regionale Zugehörigkeit an. In La Paz werden graue oder braune Bombines (Bowler) getragen, in Cochabamba werden hohe weiße Hüte aus Gips mit breiter Krempe und schwarzem Band bevorzugt.

Nach Eduardo Galeano war es Karl III., der den Indios am Ende des 18. Jahrhunderts die Landestrachten der Bäuerinnen der Estremadura, Andalusiens oder des Baskenlandes aufzwang. Das erklärt freilich weder, wieso diese Hüte auch nach der Unabhängigkeit von den Spaniern beibehalten wurden, noch wie die Bowlerhüte und andere spätere Hutformen sich durchsetzen konnten. Als psychologische Erklärung bietet sich die Identifikation mit dem Aggressor an. Vielleicht sind sie auch – wie es von den Monteros, den schwarzen helmartigen Lederhüten aus Tarabuco/Sucre, behauptet wird – als Persiflage auf die Helme der spanischen Soldaten der Conquista zu verstehen.

Oder einfach ein Zufall der Geschichte, wie eine andere Erzählung nahelegt: Eine Schiffsladung von Bowlerhüten wurde nach Bolivien fehlgeleitet, und ein geschäftstüchtiger Kaufmann redete den Cholas ein, daß das Tragen dieser Hüte Fruchtbarkeit garantiere. Bei einem Durchschnitt von fünf Kindern schaden sie in dieser Hinsicht zumindest nicht. Wie dem auch sei, Grund genug, einen Hut zu tragen, sind die in der Höhe des Altiplano so intensiven und grellen Sonnenstrahlen. Ist der historische Ursprung, der Prozeß der Übernahme der Hüte nur schwer rekonstruierbar, so ist die faktische Herkunft der Hüte eindeutig: neben Ibusa in La Paz ist Charcas Glorieta in Sucre die zweite große Hutfabrik Boliviens. In der Calle Camargo 481, kaum fünf Minuten von der Plaza 25 de Mayo entfernt, steht das langgestreckte weiße Fabrikgebäude.

Giménez Turba, der freundliche Geschäftsführer mit italienischen Vorfahren, erzählt, daß die Fabrik 1929 gegründet wurde. Heute ist die Hutfabrik der größte Betrieb der Stadt mit etwa 150 Arbeitern. Sie arbeiten in zwei Schichten und verdienen durchschnittlich 150 DM. Die Produktionszahlen sind beachtlich: bis zu 2.400 Rohformen, die zum Teil an Handwerker zur Fertigstellung weiterverkauft werden. 600.000 Hüte werden im Jahr in 150 Modellen hergestellt. „Der Markt“, so führt Giménez aus, „ist groß. Von den rund sieben Millionen Bolivianern tragen drei Millionen Hüte, und zwar während der Feldarbeit genauso wie bei Festen.“ Bei dreitägigen Festen wird sogar jeden Tag ein neuer Hut getragen. Damit wird Wohlstand und Reichtum signalisiert. Auch nach Peru, Argentinien und in die USA werden die Hüte exportiert. In Italien hat Glorieta die Hutfabrik Panizza am Lago Maggiore übernommen, in der auch wie bei Borsalino die weichen Kaninchenhaare verarbeitet werden.

In Sucre ist der Rohstoff Schafswolle vom Altiplano, aus Argentinien oder Uruguay, die in der alten Fabrikhalle in elegante Hüte verwandelt wird. Im ersten Arbeitsgang spritzen die Arbeiter die Wolle auf dem Hof ab und waschen sie in großen Steinbottichen. Danach wird sie geschleudert und in einem geheizten Schrank getrocknet. Eine Maschine zerkleinert sie, bevor sie mit einem Bindemittel zu einem „Stumpen“, einer weißen Scheibe mit rudimentärer Mützenform, verfilzt wird. Diese Rohformen werden dann gefärbt, auf die Modelle gestülpt, geschliffen, vom Staub befreit und maschinell drei Minuten lang zur eigentlichen Hutform gepreßt. In einer anderen Halle nähen und applizieren Frauen unterschiedliche Hutbänder. Die Prachtstücke werden in einem Verkaufsraum präsentiert: Tarjeños, Jotoleños, Vaqueros, Americanos, Petiteros, Paceños, Capelina, Sombrero Johnson... Zwischen 20 und 25 DM kosten sie etwa.

Jugendliche tragen in letzter Zeit auch zunehmend Schlägermützen aus Plastik mit US-amerikanischen Firmenaufdrucken. Doch für viele Aymara und Quechua ist der Hut immer noch mehr als nur ein Sonnenschutz. Mit Hutformen, die paradoxerweise europäischer Herkunft sind, demonstrieren die Indigenas ihre Verbundenheit mit der Tradition. „Sie mögen barfuß gehen“, schreibt Eduardo Galeano, „die bolivianischen Indios, Mann oder Frau, Junge oder Mädchen, doch niemals ohne Hut. Der Hut verlängert den Kopf, den er schützt; und wenn die Seele zu Boden fällt, hebt der Hut sie wieder auf.“

Der Autor, Dirk Bruns, veröffentlichte im Mundo-Verlag das Express-Reisehandbuch „Bolivien“, 1994, 528 Seiten, 44 DM