Jenseits von Gemeinsinn und Liberalismus

Aufgrund der technologischen Entwicklung läßt sich nur noch eingeschränkt von einer Autonomie des bürgerlichen Subjektes sprechen. Damit fehlt dem Modell der verfassungsliberalen Gesellschaft seine wesentliche Voraussetzung  ■ Von Harry Kunz

Festhalten an den Idealen oder deren entschiedene Neuinterpretation? Wo das Scheitern des Sozialismus von Linken überhaupt ernst genommen wird, sieht die Debatte um ihr zukünftiges Selbstverständnis meist in falschen, undemokratischen und gewalttätigen Mitteln Ursachen des Desasters, während an den linken und liberalen Idealen und Werten auch am Ende des 20. Jahrhunderts unverdrossen festgehalten wird. Entsprechend empfiehlt sich die Linke eine affirmative Aneignung des Verfassungsliberalismus (Micha Brumlik in der taz vom 2. Februar) oder eine Erneuerung ihres Solidaritätpotentials (Sibylle Tönnies in der taz vom 23. Januar) zur Selbsttherapie. Resultiert das Scheitern der sozialistischen Linken indes nicht nur aus der mangelnden Verwirklichung ihrer Ideale und Ziele, sondern wesentlich aus deren problematischen Voraussetzungen in einem verabsolutierten und der Kritik entzogenen Welt- und Menschenbild, kann der lange Marsch der Linken nach ihren marxistischen Verirrungen weder umstandslos bei einer aus dem 17./ 18. Jahrhundert stammenden liberalen Theorie noch bei einem – ähnlich wie der Irrweg kommunistischer Ideologie – die konfliktive Struktur jeder Gesellschaft leugnenden kommunitaristischen „Gemeinschafts“-Denken ansetzen.

Technik als Grenze des Diskurses

Eine der letzten theoretischen Versuche, die liberal-aufklärerischen Idealvorstellungen auch unter heutigen Bedingungen aufrechtzuerhalten, stellt die maßgeblich von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel konzipierte Diskursethik dar. Deren Realisierungsmöglichkeit ist freilich an weltweit „entgegenkommende“ Institutionen und Lebensformen gebunden, was Habermas in einer vorgeblich weltweiten Tendenz zu demokratischer Rechtsstaatlichkeit und der Ingeltungsetzung der Menschenrechte gegeben sieht. Die Diskursethik und alle Spielarten des Verfassungsliberalismus berücksichtigen indes nicht den Umstand, daß die postmoderne Gesellschaft, in der wir leben, eine durch technologische Revolutionen bestimmte Sozialität ist.

Die zunehmende technische Herrschaft des Menschen über seine innere und äußere Natur, welche politische und soziale Emanzipation initiieren, Selbstbestimmung und -verwirklichung von immer mehr Menschen ermöglichen sollte, hat den normativ gehaltvollen Begriffen der Autonomie und des freien Willens, an die alle aufklärerisch-liberalen Konzepte gebunden sind, tendenziell die Grundlage entzogen. Mit der Globalisierung der Lebensweise der modernen europäischen Zivilisation geht die Selbstaufhebung der diesem Zivilisationsmodell zugrunde liegenden Ideale und Grundüberzeugungen einher. Zwar eröffnet sich der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft durch die Fortschritte der Raum- und Zeitbegrenzungen mehr und mehr aufhebenden Kommunikationstechniken eine technisch-institutionelle Realisierungsmöglichkeit. Doch gleichzeitig entwickeln sich innerhalb des Kommunikationssystems Mechanismen, die die Realisierung dieses Konzepts unmöglich machen, weil sie das Bild vom Menschen als einem vernünftigen, zu individuell und kollektiv autonomem Handeln befähigten Subjekt sowie die Annahmen einer festgefügten und einheitlichen Welt und Wirklichkeit unterminieren. Diese Orientierungen relativieren sich wechselseitig und sind nicht mehr in das Korsett eines starren liberalen und humanistischen Menschenbildes zu zwängen.

Eine explosionsartige Vervielfältigung der Weltbilder und Lebensperspektiven wird sichtbar, ohne daß noch ein allgemeiner Grundkonsens erkennbar wäre. Die Mediengesellschaft erzeugt so nicht ein Mehr an Transparenz und sozialem Selbstbewußtsein, sondern unsere Gesellschaft wird komplexer, unübersehbarer, ja chaotischer. Sie ist durch politisches Handeln und rechtliche Vorgaben immer weniger steuerbar. Parlamentarische Politik und Regierungshandeln beschränken sich auf kurzsichtiges Chaos- und Risikomanagement, zu dem die Proklamation langfristiger Problemlösungsstrategien und Zielperspektiven nur noch eine realpolitische belanglose Begleitmusik abgibt.

Die mit dem Siegeszug medialer Kommunikations- und Informationstechniken einhergehende explosionsartige Vermehrung von Weltbildern und Weltanschauungen dekuvriert zugleich das linksliberale Humanitätsideal als ein mögliches, aber nicht als das allgemeingültige Ideal. Die vom klassischen Liberalismus unhinterfragt als gültig angesetzte physische Wirklichkeit ist mit den medial erzeugten Realitäten in unserem Alltagsbewußtsein längst untrennbar verwoben. Die von der Ökologiediskussion thematisierte, zunehmende Verdrängung und Ersetzung der natürlichen Umwelt durch technische Konstrukte trägt gleichfalls zur Schwächung unseres Sinns für die Realität bei.

Abschied vom Humanismus

Der Mensch ist längst nicht mehr nur Subjekt der technologischen Entwicklung, sondern wird mit den Fortschritten der Medizintechnik, der Humangenetik und der Fortpflanzungsmedizin sowie mit den psychotherapeutischen Verfahren der Verhaltensänderung auch zum Objekt technischer Manipulation. Selbstverwirklichung und -vervollkommnung werden technisch möglich und damit zu einer sozialen Norm, der kaum zu entrinnen ist. Mit der Emanzipation aus den starren Zwängen von Rollenzuweisungen und Konventionen führt Individualisierung also nicht einfach zu der im emphatischen Sinne verstandenen liberal-aufklärerischen Selbstbestimmung. Wir geraten vielmehr auch unter das Diktat technisch vorgegebener Sachzwänge und der von ihnen mit ausgelösten schnellebigen Konjunkturen und Moden, denen sich unser Selbstbild anpassen und unterwerfen muß, um nicht als antiquiert zu erscheinen.

Die Vorstellungen von einer einzigen Welt, einer festgefügten äußeren und inneren Natur des Menschen, einem klaren Entwicklungsziel der Menschheit und den daraus abgeleiteten unveräußerlichen Menschenrechten mögen in politischen Sonntagsreden weiterhin propagiert werden, über die tatsächliche und unaufhebbare Diskrepanz zwischen den vom Liberalismus entworfenen Begriffen der Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft, universaler Menschenrechte und sozialer Gleichheit einerseits und den tatsächlichen Zuständen der Unterdrückung und der Gewalt andererseits belehrt uns eindringlich jeder gewöhnliche Fernsehabend. Der Subjektcharakter des Menschen und die Idee autonom handelnder Individuen enthüllen sich nicht nur im philosophischen Seminar, sondern längst auch in unserer Alltagserfahrung als Fiktion. Je stärker wir hoffen, unsere Lebensverhältnisse mit Hilfe der Technik zu bestimmen, um so mehr fühlen wir uns durch die Technik bestimmt. Wir sind eingespannt in die Anforderungen der technologischen Zivilisation, denen wir uns fügen müssen.

Die Alltagserfahrung unhintergehbarer Sachzwänge ist aber mit unserem modernen Selbstbild nicht vereinbar, die entstehende kognitive Dissonanz wird durch die Steigerung des Anspruchs der Subjektivität abgewehrt. Der solchermaßen technologisch bewirkte „Tod des Subjekts“ und das Aufbegehren narzißtischer Ichsucht sind zusammengehörige Momente. Die Verwechslungen von Autonomie mit subjektiver Willkür und von Individualität mit einer Selbstsucht, die sich allein an egoistischer Bedürfnisbefriedigung und Erlebnishunger orientiert, entstammen damit nicht einfach der kulturkritischen Klamottenkiste konservativer Kommunitaristen, sondern sind eine auch empirisch belegbare Erscheinung der individualisierten „Erlebnisgesellschaft“, der sich eine liberale Theorie dann stellen muß, wenn sie sich nicht in Philosophiegeschichte erschöpfen will.

Die Selbstzerstörung des Liberalismus

Die Gefahr der Selbstzerstörung des liberalen Projekts durch die Bereitstellung der technischen Möglichkeiten zu einer Realisierung kann allein durch den Rekurs auf ein Konzept politischer Gerechtigkeit nicht abgewehrt werden, sofern dieses lediglich durch verfassungsmäßige Rechtsstaatlichkeit, demokratische Wahlen und staatlich garantierte soziale Freiheiten bestimmt ist. Denn das Recht und eine durch das Recht begrenzte Politik sind an gesellschaftliche Leitbilder und Werte gebunden, ohne diese in ausdifferenzierten Gesellschaften entscheidend beeinflussen zu können. Weder das Grundgesetz noch andere westliche, liberale Verfassungen können das Wechselspiel zwischen Moral und Technik stoppen, wo die technischen Maßnahmen zur Verwirklichung eines moralischen Wertes in den jeweilig geltenden Wertekanon intergriert werden und somit letztlich das getan wird, was technisch machbar ist und woran ein individuelles Interesse besteht. Zwar ist unsere Verfassung an das überpositive Grundprinzip der Menschenwürde gebunden, doch deren Garantie heißt immer auch Anerkennung unhintergehbarer individueller Rechte. Die etwa durch die medizintechnische Entwicklung geschaffenen Handlungsoptionen verwandeln fortlaufend den „Inhalt“ der Menschenwürde, weil die aus ihr abgeleiteten Positionen der Politik und des Rechts (Selbstbestimmung, Schutz der Gesundheit und so weiter) mit jeder Weiterentwicklung der Technik ihren Geltungsbereich verändern oder an neue technische Möglichkeiten angepaßt werden.

Ist das Instrumentarium des politischen Liberalismus damit tendenziell blind für die technologisch bewirkte Selbstaufhebung des liberalen Anliegens, so bietet sich eine von den fragwürdigen Aspekten der Gemeinschaftstümelei befreite Rezeption der kommunitaristischen Argumentation an, diesen blinden Fleck des liberalen Konzepts auszugleichen. Wie soll angesichts der medizintechnischen Entwicklung unser Selbstbild der Zukunft aussehen, was bedeutet Selbstverwirklichung in der technologischen Zivilisation, wie soll unsere Verantwortung gegenüber den Menschen in anderen Kulturen interpretiert werden? Wieviel Mediatisierung ist mit unserem Bedürfnis nach einem überschaubaren Weltbild verträglich, und in welcher Natur wollen wir zukünftig leben? All dies sind letztlich ethische Fragen, die der Liberalismus „inhaltlich“ nicht beantworten kann.

Die Notwendigkeit einer kommunitaristischen Orientierung

Eine kommunitaristische Orientierung an Grundwerten und die Forderung nach Gemeinsinn – worunter milieuspezifisch sehr Verschiedenes verstanden wird – bilden hingegen mögliche Antworten zu einer offenen, politischen Wertediskussion in einer pluralistischen Gesellschaft und sind als solche innerhalb der liberalen Kultur nicht nur legitim, sondern auch erwünscht. Denn die Schaffung von Öffentlichkeiten zur Artikulierung gemeinsamer Anliegen bestimmter Gruppen und ihr Einfordern gesellschaftlicher Anerkennung bilden das Lebenselixier einer Gesellschaft, die nicht mehr über gemeinsame Grundwerte zusammengehalten wird, in deren Herzen Konflikt und nicht Konsens herrscht. Fraglos verfangen sich derartige „kommunitaristische“ Ansinnen aber allzu leicht in der Verabsolutierung der Vorstellungen einzelner gesellschaftlicher Gruppen.

Was Linke und Rechte, Konservative und auch viele Liberale lernen müssen, ist daher die Einsicht, daß es auf Fragen der genannten Art in jeder Gesellschaft viele mögliche Antworten gibt, die nicht mehr unter einen Begriff von Menschlichkeit, einer festgefügten Natur sowie einer Welt und einer Wirklichkeit subsumierbar sind. In all diesen Fragen besteht in unserer Gesellschaft kein ethischer Konsens, sondern ein beständiger Kampf unterschiedlicher Interpretationen um Hegemonie. Die gesellschaftliche Ordnung fungiert lediglich als Spielraum dieser Auseinandersetzungen und sichert durch die institutionellen Vorkehrungen der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung die Möglichkeiten zur nicht gewaltsamen Konfliktaustragung gegen die jederzeit aktuelle fundamentalistische, totalitäre Gefahr der Absolutsetzung einer weltanschaulichen Position. In der Mediengesellschaft wirkt zudem die Flut der zu jedem Thema vorgetragenen Interpretation der Verabsolutierung einer Position entgegen.

Für eine Neubestimmung der linksliberalen Ziele

Für jene Teile der Linken und Liberalen, die ihre Tradition wahren wollen, ohne die Einsicht in die Grenzen, Aporien und Paradoxien dieser Tradition noch länger zu verdrängen, muß es darum gehen, die linksliberalen Ziele von Freiheit, Gleichheit, Solidarität neu zu bestimmen und von ideologischen Relikten zu befreien:

Wie kann das Konzept der Menschenrechte so ausgelegt werden, daß sein eurozentrischer und kulturimperialistisch-nivellierender Charakter zumindest abgeschwächt wird? Wie könen die Ideen individueller Selbstbestimmung und sozialer Emanzipation vor ihrer Pervertierung in den Äußerungen individueller Willkür und menschlicher Allmachtsphantasmen geschützt werden? Wie kann eine globale Ökologiepolitik dem aus dem postmaterialistischen Wertewandel der neuen Mittelschichten der westlichen Welt entstammenden Ökologiegedanken Rechnung tragen, ohne den zugrundeliegenden romantischen Naturbegriff anderen Kulturen aufzuzwingen, die dies angesichts ihrer Traditionen und ihrer konkreten Probleme als zynisch und wirklichkeitsfremd empfinden müssen?

Wenn die kommunitaristische Herausforderung zu einer derartigen kulturellen Reflexion anregt, unsere jeweiligen Vorstellungen über ein „gutes Leben“ zu erneuern und gleichzeitig anzuerkennen, daß keine Antwort Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, dürfte der Kommunitarismus – durchaus entgegen dem Ansinnen mancher Kommunitaristen, die, vor der Postmoderne schaudernd, sich nach den vermeintlich geordneten Strukturen der Prämoderne zurücksehnen – zu einem neuen Ausgleich von Pluralität und Moral beitragen.