Wie das Indioherz die Demut verlor

In der Hauptstadt der mexikanischen Unruheprovinz Chiapas erhitzen sich an der Frage der Sympathie für die Zapatisten die Gemüter / Besonders kontrovers: Bischof Ruiz  ■ Aus San Cristóbal de las Casas Ralf Leonhard

Wer heute in San Cristóbal de las Casas ankommt, erlebt eine scheinbare Normalität. Der Hauptplatz füllt sich Sonntag nachmittag mit biederen Familienvätern, die einmal die Woche ihre Kinder spazieren führen. Schuhputzer polieren zeitunglesenden Herren die Stiefel; abends werden Eisverkäufer von Maiskolbenfrauen abgelöst. Kleine Indiomädchen in der blauen Tracht der Chamulas belagern Rucksacktouristen in Bermudas und Sandalen mit selbstgemachten Stoffpuppen des Subcomandante Marcos.

Der Krieg im lakandonischen Urwald, wo die Armee seit dem 8. Februar die einst von der zapatistischen Befreiungsarmee kontrollierten Dörfer besetzt hat, ist in der Hauptstadt von Chiapas nicht nur Gegenstand von Straßengeplauder. Zwar gibt es nur spärliche Informationen aus dem Konfliktgebiet, doch wird der Kampf mit der selben erbitterten Härte auch innerhalb von San Cristóbal ausgetragen. Die Coletos, wie sich die Einwohner von San Cristóbal nennen, sind in zwei Lager gespalten: Die einen ergreifen Partei für den von den Zapatisten postulierten Wandel; die anderen verteidigen hinter den Schlagworten Tradition und Frieden die alte Gesellschaftsordnung. Eine Gruppe, die sich „authentische Coletos“ nennt, hat auch längst den Schuldigen ausgemacht: Bischof Samuel Ruiz, Mittelsmann im derzeit unterbrochenen Dialog zwischen der Regierung und den Zapatisten. Für seine Gegner heißt das katholische Oberhaupt Comandante Samuel – der eigentliche Drahtzieher hinter der Rebellion.

Sonntag vormittag versammelten sich die „Coletos autenticos“ im Zentrum von San Cristóbal. Sie brachten eine lebensgroße Puppe mit, die dank Brille und stattlichem Bauch für alle als Don Samuel zu identifizieren war. Hammer und Sichel auf seiner Mitra sollten auf subtile Weise seine politische Ausrichtung suggerieren, eine ähnlich subtile Kalaschnikow mit Rosenkranz in seiner Hand seine Rolle im bewaffneten zapatistischen Kampf. Der Klingelbeutel mit dem Dollarzeichen schließlich spielte darauf an, daß der Bischof und damit die Zapatisten aus dem Ausland finanziert würden, unter anderem aus Deutschland.

Für die Demonstranten ist Bischof Samuel Ruiz an allem schuld. Er habe die Indios aufgewiegelt, die schönen Traditionen verdrängt, die Stadt den Protestanten und Kommunisten ausgeliefert, brüllt ein Einpeitscher ins Mikrofon. Die „authentischen Coletos“, so erklärt der Elektriker Daniel de Jesus Jimenez, bedauerten, daß die Indios auf Grund der Irrlehren des Bischofs ihre Traditionen vergessen hätten. Die „indianischen Mitbürger“ waren immer gern gesehen, solange sie Marimba spielten, ihr Brauchtum pflegten und vom Gehsteig auf die Straße auswichen, sobald ein Weißer oder Mestize entgegenkam. Immer wieder betonen die Sprecher der Bewegung, die Indios hätten ihr „demütiges Herz“ verloren.

Während die Kaufleute und Viehzüchter auf der Tribüne nicht müde werden, den friedfertigen Charakter ihrer Demonstration zu betonen, sprechen die mitgebrachten Transparente eine andere Sprache. Da fordern die einen den elektrischen Stuhl für den Bischof und die anderen eine Massenvergewaltigung für die Schauspielerin Ofelia Medina – die sich für die Zapatisten engagiert – wie für Marisa Kramsky, die in der „Übergangsregierung“ von Chiapas eine Rolle spielt. „Fehlgeburt der Hölle“ ist das mildeste Epitheton, mit dem der katholische Oberhirte auf den Spruchbändern bedacht wird. „Auf den Scheiterhaufen mit dem Bischof!“, brüllt eine aufgebrachte Frau, während unter Beifall die mit Petroleum übergossene Puppe in Flammen aufgeht.

Durch eine Straße und zwei Hundertschaften der Anti-Aufruhr-Polizei getrennt, singen indessen ein paar hundert Bischofsanhänger mit weißen Dahlien Marienlieder. Seit zwei Wochen lagern die Indios vor der ehrwürdigen Kathedrale aus dem 18. Jahrhundert, um ihren „Tatic“ (Bischof Samuel) zu verteidigen. Der Polizeikordon wurde angeordnet, weil in der Vorwoche Demonstranten den Bischofssitz mit Steinen attackiert und dabei vier Personen, darunter zwei Frauen und ein Mädchen, verletzt hatten.

Die Bürger für den Frieden, wie sich die blumenbewehrte Initiative nennt, wollen so lange vor der Kathedrale ausharren, bis Mexikos Regierung wieder den Dialog mit den Zapatisten aufnimmt. Amado Avendano, unterlegener Kandidat bei den Wahlen zum Gouverneur des Staates Chiapas und Anführer der „Übergangsregierung“, führt währenddessen einen Marsch in die mexikanische Hauptstadt an, um die Bevölkerung in allen Landesteilen für Chiapas zu sensibilisieren. Die nach dem Zapatistenaufstand erstarkten Organisationen der Zivilgesellschaft fordern wegen Wahlschwindels den Rücktritt von Gouverneur Eduardo Robledo. Als dieser sich vor zwei Wochen überraschend für ein Jahr beurlauben ließ, dauerte der Jubel jedoch nur kurz – Robledo wurde umgehend durch einen anderen Vertreter der Regierungspartei PRI, Julio Cesar Ruiz Ferro, ersetzt. Die „Übergangsregierung“ will nun die Gemeinden durch zivilen Ungehorsam unregierbar machen.