Das Geschlecht der Menschenfresser

Lesbisch, schwul, hetero und jenseits der Geschlechter: An vier politisch korrekten Abenden zum Thema Erotik und Pornographie in Berlin gestattete sich ein stummes Publikum den Blick ins ansonsten verriegelte Gomorrha  ■ Von Ina Hartwig

Trotz bemühten Einsatzes sogenannter Sexspielzeuge kann die Moderatorin Laura Meritt niemandem ein Zeichen freundlicher Zustimmung abringen am ersten Abend jener Veranstaltungsreihe in der Berliner Literaturwerkstatt, die mit dem Titel „Texte zwischen Erotik und Pornographie“ letzte Woche ein paar zig Leute ins dunkle Pankow gelockt hat.

In Deutschland ist pornographischer Konsum scheinbar politically correct, wenn man nicht hetero ist beziehungsweise, wenn der oder die Heterosexuelle darauf verzichtet, sich für normal zu halten. Und so waren denn hier, im Sinne der politischen Korrektheit eben, die Heteros – in Schwulenkreisen neuerdings gern „Heten“ geschimpft – eingegliedert worden in die Variantenreihe: lesbisch (1. Abend), hetero (2. Abend), jenseits der Geschlechter (3. Abend) und schwul (4. Abend). Um es gleich zu sagen: Von den großen Unterschieden keine Spur.

Die Accessoires, die die selbsternannte lesbische „Sexpertin“ Laura Meritt zur Schau trägt, wiederholen vielmehr die verstaubte, über Jahrzehnte erstaunlich gleichgebliebene Palette von St.-Pauli- Erotika. Im Dienstmädchenaufputz mit Staubwedel, dabei viel Haut zeigend, versucht sie dem faszinierend reaktionslosen Publikum einzureden, daß Lesbensex phantasievoll und lustig sei. Zur Demonstration werden kichernd Dildos in Mohrrüben- oder Delphinform und Vaginalspangen aus einem Rotkäppchenkorb gezaubert; käuflich erwerbbar an diesem Abend, der vor allem die eine Attraktion bot, nämlich neugierigen Männern endlich den erhofften Blick in das ansonsten hermetisch verriegelte Gomorrha zu gestatten.

Gequält sehen die zwei etwa 30jährigen Autorinnen auf dem Podium dem peinvollen Auftritt ihrer Neigungsgenossin zu, um endlich ihre eigene Version lesbischer Sexualität zum Vortrage zu bringen. Cornelia Saxe gehört, wie ich mich aufklären ließ, dem Typus femme an und bestätigte, daß die bekannte Lesbenregel butch in the streets, femme in the sheets (etwa: draußen kerlig, weiblich im Bett) auch umgekehrt gilt: Sie hatte nämlich butch-Phantasien, angesiedelt im Amsterdamer Sub – und die sind reichlich süß formuliert. Da werden „Evas Brüste in die Hände genommen“, da „steckte ihr die Liebe als Schmerz zwischen den Rippen“, da wird „genascht vom Schamhaar“, da legt sich „Muschel an Muschel“. Weniger keusch und erfreulicherweise auch weniger kunstbeflissen sind die sadomasochistischen Phantasmagorien von Regina Nössler, die es fertigbringt, wirklich so etwas wie lesbische Pornographie zu liefern, das heißt Sex von Frauen mit pornographischen Mitteln zu benennen. Doch nicht, daß „sie kommt“, wie Nössler den sogenannten Höhepunkt orthodox nennt, erstaunt, sondern die Selbstironie hinsichtlich des Lesbenalltags, also dessen, was gar nicht speziell lesbisch ist.

„Die Schönheit des Nachmittags flehte ihn an.“ Aus der Feder welchen Geschlechts stammt dieser zierliche Satz? Richtig, aus der eines Mannes, pardon, eines Heterosexuellen. Daß von dieser Seite nicht viel Schmutziges zu erwarten ist, hatte das Publikum geahnt – und es blieb tatsächlich aus. Nur wenige lauschen den müden Erotismen von Udo Oskar Rabsch, der den Anschluß an die allgemeine Korrektheit mittels ethnischer Vielfalt zu finden sucht. Nicht irgendeine Frau und nicht irgendein Mann treffen sich zur körperlichen Kontaktaufnahme, sondern eine Zigeunerin in Haft und ein Staatsanwalt: Asyldebatte als Stimulans. Verheißungsvoll verspricht der Arzt und selbsternannte Romancier Rabsch „Berührungen, die allzu heftig sein würden“. Sein sagenhaftes Stilmittel ist die Parataxe: „Sie war immer noch eine schöne Frau. Sie dachte voller Zärtlichkeit an den Staatsanwalt. Sie hatte sich in ihn verliebt. Sie war Zigeunerin.“ Anstelle der genreüblichen Kopulation wählt Rabsch den Selbstmord. Dem armen Staatsanwalt nämlich geraten – ist es nicht herrlich? – alle Sinne außer Kontrolle, als die Zigeunerin sich vor ihm entkleidet. Das verträgt sich einfach nicht mit juristischem Denken, und da erschießt er sich verständlicherweise – nachdem er noch zugegeben hatte, man könnte die Strafe auf Bewährung aussetzen (was der schönen Sünderin leider nichts mehr nützt).

Moderiert wurde auch der zweite Abend, doch Reden ist in diesen Kreisen, wie sich herausstellte, nicht gern gesehen. So hat denn Marlon Shy auch gleich verkündet, sie sei gerade aus dem Himalaya zurück – zum Beleg dafür war sie barfüßig, hatte einen Kluncker auf der Stirn und eine goldene Decke um die Schulter –, ihr Magen sei noch ganz mitgenommen, so daß wir uns bittesehr nicht wundern mögen, wenn sie zwischendurch raus müsse. Kotzen. Was uns glücklicherweise erspart blieb.

Im übrigen ist die Reisende eine Mitarbeiterin von Claudia Gehrke, der nicht ganz unbekannten Verlegerin aus Tübingen, die insbesondere während der sogenannten PorNo-Debatte als Antipodin von Alice Schwarzer hervorgetreten war. Seit fast zehn Jahren hegt Gehrke die Hoffnung, daß eine andere als die kommerzielle Pornographie möglich sei. Wer ihre Reihe „Mein heimliches Auge“ kennt, weiß, daß Gehrkes Hoffnung auf Dilettantismus und (folglich) Privatismus setzt. Mit Ausnahme des vierten, schwulen Abends sind alle in Pankow Lesenden im Programm ihres Konkursbuch Verlags vertreten.

Voll ist der Saal am dritten Abend, der dem ganz anderen des ersehnten anderen gilt: Männer mit Busen, Frauen mit Bart, kurz, beings from outer space hatte man erwartet, wie sich in der Diskussion, die jetzt (dank einer wunderbaren Moderatorin) tatsächlich stattfand, herausstellte. Doch auf dem Podium saßen „nur“ drei ganz normale (= richtige) junge Frauen, eine in Lackstiefelchen, eine als kernige butch und eine Japanerin als alterslos Außereuropäische. Eine Enttäuschung war der Abend offensichtlich nicht, wie Gespräche mit den drei Erotikerinnen nach der Lesung verraten. Es muß ja nicht gleich eine Transsexuelle sein: Ein etwa 60jähriger Herr in Turnschuhen (alle älteren Männer trugen Turnschuhe) sieht eindringlich, um nicht zu sagen schleimig, in die Augen der kernigen Lesbe, in denen er wahrscheinlich nach dem „Gelebten“ ihrer Literatur forscht. In der Luft liegen Freaktum und Einsamkeit.

Gerburg Treusch-Dieter, eine wagnerianische Schönheit in mittleren Jahren, ist eine wandelnde Performance. Vielleicht, weil sie für Cyber-Space schwärmt („Endlich Sex ohne Schuld!“), wurde sie als Moderatorin dieses „jenseits“- Abends engagiert, kam aber mit ihrer maßlosen Lust am Kommentieren nur halbwegs gut an. Als sie Phoebe Müller versehentlich als Pornofilmerin statt als Pornofilmvorführerin vorstellt, kommt in den Reihen des ansonsten durch Stummheit gezeichneten Publikums erstmals – und sofort empörte – Stimmung auf.

Phoebe erzählt ein bißchen geziert, daß es „nicht schön“ ist, die Taschentücher nach den Filmvorführungen aufzusammeln. Dann liest sie aus ihrem Roman „Schlachthof der Lüste“, einem durch Vampirismus beeinflußten Lesben-Splatter-Porno, der wirklich nicht schlecht ist, weil das Zeichenrepertoire begrenzt und konsistent montiert ist. Ihr „kleines Mädchen“, dazu bestimmt, „geschlachtet zu werden“, wird an einem Seil in den Schlachthof geschleppt. Es wird aber nicht sterben, sondern „gerammelt“ von einem blutrünstigen Koloß, dem Schlachter. Regisseurin und Voyeurin zugleich, gibt die Erzählerin bekannt: „Ich war gerührt.“

Nein, die Zuhörer sind nicht schockiert. Sie wollen nur nicht alles interpretieren wie diese komische Wissenschaftlerin. Die aber bleibt glücklicherweise hart. Als jemand wissen will, was das Gelesene denn mit dem Motto des Abends zu tun habe, gibt Gerburg Treusch-Dieter die Frage an die Autorinnen weiter, und wir haben das Pech, so belanglose Antworten zu hören wie: „Für mich gehören zu den zwei Geschlechtern auch Früchte, Bäume und Steine.“ Oder: „Es gibt nicht nur die Geschlechter von Mann und Frau, sondern auch das Geschlecht der Menschenfresser.“

Als am vierten und letzten Abend dann noch der hübsche Ogar Grafe – der gerade ein köstliches, in der Camp-Tradition von Jeff Koons und Tom of Finland stehendes Satyr-Porno-Idyll verlesen hat, in dem Elfen aus riesigen Pilzen ihren Elfennektar verspritzen – felsenfest bekennt, er habe „das alles wirklich erlebt“, verstehe ich von dieser Welt nur noch, daß sie nicht verstanden werden will. Oder warum grinst Ogar?