„Nix wie weg und möglichst weit!“

Die gutsituierten Jungsenioren begeistern sich für Kultur und Kulinarisches in Frankreich. Neue Trends im Reiseverhalten der Deutschen  ■ Von Horst W. Opaschowski

In den fünfziger Jahren wurde die erste repräsentative Befragung von sogenannten „Gesellschaftsreisenden in Turniersonderzügen“ durchgeführt. Das Ergebnis: Bei den früheren Gesellschaftsreisenden handelte es sich in erster Linie um reiseunerfahrene und reiseunsichere soziale Schichten, die gegen Zahlung einer Pauschalsumme von der eigenen Initiative entlastet werden sollten. Die Teilnehmer an organisierten Reisen empfanden es als besonderen Vorteil, „in den Ferien ,nicht denken‘ zu müssen“. Und ohne das bequeme Angebot wären sie wohl kaum verreist...

In den letzten vier Jahrzehnten hat sich ein grundlegender Wandel von der Gesllschafts- zur Pauschalreise vollzogen. Die Pauschalreise ist gerade für Reiseerfahrene und höhere soziale Schichten gesellschaftsfähig geworden. Die Pauschalreise gilt heute fast als Synonym für eine Flug-, Fern- oder Auslandsreise. Individualreisende fahren mehrheitlich mit dem Auto oder der Bahn in den Urlaub, Pauschalreisende aber sind zunehmend auf das Verkehrsmittel Flugzeug und auf organisatorische Hilfen durch Reisebüros und Reiseveranstalter angewiesen. Der typische Pauschalreisende macht seltener in Deutschland oder Österreich Urlaub und hält sich mehr in Spanien, Italien, Griechenland und der Türkei, in Tunesien, Marokko, Afrika, Fernost, der Karibik oder den USA auf.

Pauschal oder individuell – das ist heute keine Frage der Urlaubsphilosophie mehr, eher eine Frage des Reiseziels. Die Pauschalreise wird aus ganz praktischen, reiseorganisatorischen Gründen gewählt.

Immer mehr Urlaubsreisende steigen vom Auto auf das Flugzeug um. Mit zunehmender Reiseerfahrung wachsen auch die Ansprüche der Urlauber: „Nix wie weg. Möglichst weit. Und das auf dem schnellsten Wege“ – so läßt sich die neue Anspruchshaltung im Urlaubsreisemarkt der neunziger Jahre umschreiben. In den letzten Jahren ist der Wunsch, sich die Reise ganz individuell zusammenzustellen, schwächer geworden. Vor allem Familien fühlen sich zunehmend überfordert durch den Planungs- und Organisationsaufwand für einen Urlaub in Eigenregie, bei dem die Interessen der Eltern, Kinder und Jugendlichen gleichermaßen zu ihrem Recht kommen. Das ist die Zukunftschance für Reisebüros und Reiseveranstalter und erklärt auch den Pauschalreise-Boom der letzten Zeit.

Für die Deutschen ist die Karibik der Traum der Träume. Jeder zweite Deutsche glaubt mittlerweile, unbedingt dort hinreisen zu müssen. Zudem wird die Sehnsucht nach fernen sonnigen Inselwelten immer stärker: Die Südsee, Bali und Java, die Malediven und Hawaii werden immer häufiger als Ziele genannt.

Wenn es nach den persönlichen Reisevorstellungen der Deutschen geht, dann könnte die Ferntouristik in den nächsten Jahren einen wahren Boom erleben: Australien, die Dominikanische Republik und Südafrika sind „die“ neuen Trendziele. Sie haben in den letzten Jahren die größten Attraktivitätszuwächse erfahren:

– Australien liegt bei den jungen Leuten besonders im Trend.

– Die Dominikanische Republik wird besonders stark von Angestellten favorisiert.

– Und von Südafrika als Reiseziel der nächsten Jahre träumt jeder vierte Single im Alter zwischen 25 und 49 Jahren.

Trendziele haben ihre Trendsetter. Mit dem Alter und der Lebensphase verändern sich auch die Reisewünsche. Was gestern noch als „Muß“ für Singles galt, wird plötzlich fragwürdig, wenn man eine Familie gründet:

– Wie keine andere Bevölkerungsgruppe favorisieren derzeit Jugendliche Kalifornien, Hawaii und die Sahara als neue Reiseziele.

– Für junge Leute im Alter von 18 bis 24 Jahren liegen Australien, die Karibik, die Malediven, die Philippinen, Indien, Israel und Island besonders im Trend.

– Singles, die persönlich, zeitlich und finanziell freier und unabhängiger als andere disponieren können, geben als Reiseziele der Zukunft Singapur und Hongkong, Mexiko und Thailand, Japan und China, Bali, Java, Südafrika und die Seychellen an.

– Für Familien mit Kindern unter 14 Jahren liegen die „Fernziele“ der Zukunft relativ nah: Griechenland und die Türkei.

– Die gutsituierten Jungsenioren können sich für Kultur und Kulinarisches in Frankreich begeistern.

– Und die Ruheständler wissen am meisten die Ruhe in Skandinavien zu schätzen.

Den Hintergrund für sich ändernde Reiseströme bilden auch die jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungen in den Zielländern. So ist es zu erklären, daß eine Reihe von Reisezielen deutliche Attraktivitätsverluste in der Gunst deutscher Urlauber hinnehmen mußte. Die politischen Veränderungen in Osteuropa haben beispielsweise dazu geführt, daß Rußland als Reiseziel in den letzten drei Jahren ein Drittel seiner Anhänger verloren hat und Estland, Lettland und Litauen im gleichen Zeitraum weniger Interesse finden. Und auch die Überfälle in Florida und Ägypten haben ihre Spuren hinterlassen.

Die Tourismusbranche gilt als „die“ Zukunftsindustrie des 21. Jahrhunderts. Nach Ermittlungen der Welt-Tourismus-Organisation (WTO) zog es im vergangenen Jahr rund 530 Millionen Reisende ins Ausland – 15 Millionen mehr als 1993 und fast doppelt so viele wie im Jahr 1980 (288 Millionen). Die Zahl der Touristen wird weltweit bis zum Jahre 2010 auf über 900 Millionen anwachsen.

Schon heute steuert der Tourismus zehn Prozent zum Bruttosozialprodukt der Weltwirtschaft bei. Und die Reisebranche hat sich mit einem Umsatz von 600 Millionen Mark zum größten Wirtschaftszweig der Welt entwickelt. Dem weltweiten Tourismus wird ein jährliches Wachstum von 6,1 Prozent prognostiziert, das heißt, der Tourismus wächst schneller als die übrige Weltwirtschaft. Wird der Tourismus der Zukunft sogar die „Lokomotive“ sein, die die Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts antreibt?

Prof. Dr. Horst W. Opaschowski ist Leiter des B.A.T. Freizeit-Forschungsinstituts in Hamburg.