Neun Meter Saum

Der Erfinder der Haute Couture – und der Modeindustrie – war kein Franzose, sondern der englische Modeschöpfer Charles Frederick Worth  ■ Von Anja Seeliger

Im Jahre 1850 hatten die Frauen noch großen Einfluß auf ihre Garderobe. Sie suchten sich ihre Kleiderstoffe selbst aus, besprachen den Schnitt mit ihrer Schneiderin und mit der Putzmacherin das Dekor ihres Kleides. So war es auch im Maison Gagelin, dem führendem Haus für Kleiderstoffe, Spitzen, Schals und Capes in Paris. Besonders beliebt bei der Kundschaft war ein adretter junger Mann mit einem drolligen Akzent, der ungewöhnlich viel von Stoffen verstand und einem immer so freundlich die Tür aufhielt. Der junge Mann war Engländer und hieß Charles Frederick Worth.

Zehn Jahre später schneiderte er anläßlich eines kaiserlichen Balls ein Kleid für die Prinzessin Pauline von Metternich : Über 80 Meter Tüll aus weißer Seide und mit Silberfäden durchzogen lagen auf einer weit schwingenden Krinoline. Der Tüll war mit Grasbüscheln bestickt, aus denen rosa Gänseblümchen hervorsahen. Der Rocksaum maß neun Meter, dafür war die Schlankheit der Taille durch einen breiten Satingürtel betont. Auch die Korsage war bestickt. Das Dekolleté war so tief ausgeschnitten, daß die unregelmäßig gestickten Grasbüschel gelegentlich den kleinen, durch Roßhaarpolster hochgedrückten Busen streiften. Zu dieser Robe trug die Prinzessin nichts als ihre berühmten Diamanten. Am nächsten Tag ließ Kaiserin Eugenie Worth zu sich bestellen, und von da an war es für Kundinnen, Schneiderinnen und Putzmacherinnen mit der gemütlichen Zusammenarbeit vorbei.

Paris war in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts ein Ort ungebremster Aktivitäten. In atemberaubender Weise wurde spekuliert und investiert. Einige verdienten so viel Geld, daß sie mit dem Ausgeben kaum nachkamen. Diesen Leuten gedachte Worth behilflich zu sein. Eigentlich wollte er nur seinem Couture- Haus zu Ansehen und Reichtum verhelfen. Doch da er mit seinen Methoden ganz auf der Höhe der Zeit war, schuf er sozusagen nebenbei die Modeindustrie. Das Haus, das er 1858 in der Rue de la Paix eröffnete, war so modern wie das Paris, das Baron Haussmann gerade baute. So etwas hatte die Welt noch nicht gesehen: Die ersten vier Räume glichen prachtvollen Stofflagern. Eine höchst willkommene Neuerung, denn so blieb es der Kundin erspart, selbst die unzähligen Pariser Stoffläden nach etwas Passendem abzuklappern. Im ersten Salon lag nur schwarze und weiße Seide aus, im zweiten, dem Regenbogensalon, farbige Seide, im dritten Samtstoffe und Brokate und im vierten Wollstoffe. Die Wahl wurde durch Mannequins erleichtert, die durch die Räume paradierten und dasselbe Modell in jeweils einem anderen Material trugen: Die eine in Samt, die andere in Wolle, eine dritte in Seide. Die Farbe dieser Vorführkleider war jedoch immer ein demütiges Schwarz.

Die Kundin brauchte sich auch über den Schnitt ihres Kleides keine Gedanken mehr zu machen. Da hing es, im fünften Salon, fix und fertig vor ihr. Die schönsten Kostüme, Tages- und Hauskleider waren über Stoffpuppen gezogen. Diese Modelle konnte man fertig kaufen oder sich paßgenau nachschneidern lassen. Die Puppen standen vor einer verspiegelten Wand, so daß die Kundin nicht umhin kam, die Frische dieser Kreationen mit ihrer eigenen schäbigen Garderobe zu vergleichen. Der sechste Salon schließlich war mit schweren Samtvorhängen gegen das Tageslicht abgeschirmt. Die Wände ringsum waren mit Spiegeln verkleidet, die das Licht von Gaslampen zurückwarfen, wie sie abends die Ballsäle beleuchteten. Hier konnte die Dame unter realistischen Bedingungen prüfen, wie ihr Kleid am Abend wohl wirken würde.

Worth hatte ein Gespür für Taktiken des Verkaufs, um das ihn jede grande horizontale beneidet hätte. Aber ohne Zweifel verstand er auch sein Handwerk. Geboren wurde er 1825 in Bourne, Lincolnshire. Die Familie stammte zwar aus der Bürgerschicht, doch hatte sich der Vater, ein Rechtsanwalt, mit seiner Trunksucht ruiniert. Worth mußte mit elf Jahren die Schule verlassen und in einer Druckerei arbeiten, was ihm überhaupt nicht gefiel, weil er ewig Tinte an den Fingern hatte. Daraufhin schickte Mrs. Worth ihren jüngsten Sohn nach London, wo sie ihm bei einem angesehenen Stoffhändler eine Lehrstelle beschaffen konnte. Mit 13 Jahren avancierte Worth zum Kassierer. Während seiner siebenjährigen Lehrzeit hatte er Gelegenheit, die vornehme Kundschaft und die vorzüglichen Schnitte englischer Kostüme zu studieren. Mit 20 Jahren ging er nach Paris, wo er bald eine Stelle als Verkäufer im Maison Gagelin fand, dem führenden Haus für Stoffe, Schals und Capes. Hier lernte er alles, was man über Stoffe nur wissen konnte: über ihre Qualität, ihre Eigenschaften und ihre Struktur.

Als er anfing, Kleider zu entwerfen, hatte Worth eine fast 20jährige Erfahrung mit Stoffen. Er kannte die Natur eines jeden Gewebes auf Gottes Erdboden, und so konnte er die Charakteristik eines Stoffes für die einzelnen Kleiderteile mit einplanen. Kleider entwerfen ist im Grunde eine Art Konstruktionsarbeit. Man muß dreidimensional denken können. Herrenschneider wußten das vermutlich schon immer, aber Worth war vielleicht der erste, der dieses Prinzip auch auf Frauenkleider anwendete, deren Eleganz bis dahin mehr vom Aufputz als von einem perfekten Schnitt abhing.

Von großem Vorteil war natürlich, daß er nach Pauline von Metternichs Auftritt die Kaiserin Eugenie als Kundin gewann. Von da an rannte ihm die vornehme Gesellschaft förmlich die Tür ein. Der gesamte europäische Adel bestellte bei ihm Kleider. Dazu kamen noch zahlreiche Kundinnen aus Übersee und natürlich die Kurtisanen. 1868 schrieb Joseph Primoli, der Neffe von Prinzessin Mathilda, über einen Besuch bei Worth: „Ich war mit meiner Mutter bei Worth. Er ist der Couturier der Mode. Er verlangt 600 Francs für ein simples Kostüm. Die Damen verabreden sich beim ihm und sprechen über Politik, während sie ihren Tee trinken. Bei Worth sitzt der alte Adel des Faubourg Saint Germain zwischen zwei ausgehaltenen Frauen. Und die offizielle Welt trifft auf den Faubourg. Vielleicht ist Mr. Worth nicht recht klar, was er da tut. Aber er vereint alle politischen Parteien und vermischt alle sozialen Klassen.“

Worth verbreiterte die Krinoline, schaffte den unvorteilhaften Umhang ab, der die Frauen wie ein Dreieck aussehen ließ und ersetzte ihn durch einen leichten Tüllschal. Dann machte er die Röcke kürzer. Sein Renommee war inzwischen so groß, daß seine Änderungen mindestens ebenso heftig diskutiert wurden wie die Tagespolitik. Auch von den Männern.

Das kann nicht überraschen. Die Herren waren den immensen Geldforderungen ihrer Frauen und Mätressen für Kleider kaum mehr gewachsen. Wenn die Krinoline größer wurde, dann brauchte man logischerweise auch mehr Stoff für ein Kleid. Und das kostete! Die Kaiserin hatte einen Kleideretat von 100.000 Francs jährlich: Zur selben Zeit verfügte der Direktor des Louvre über ein jährliches Budget von 7.000 Francs für Neuanschaffungen. Der Durchschnittslohn einer Näherin betrug 1867 2,25 Francs pro Tag – doch ein bestickter Schal kostete 300 Francs, ein Konfektionskleid 400 Francs und ein einfaches Couture-Kleid bei Worth 1.600 Francs.

Seinem Ruhm konnte solche Kritik keinen Abbruch tun. Der Luxus der Reichen ist das Brot der Armen — diese Devise hatte der Kaiser selbst herausgegeben. Worth erlebte jedoch eine ernste Niederlage, als er 1864 daran ging, die Krinoline abzuschaffen und die Röcke vorne abzuflachen. Die Frauen weigerten sich rundweg, ihren Stahlkäfig aufzugeben. Erst nach dem deutsch-französischen Krieg und dem Untergang des zweiten Kaiserreichs war man bereit für die Tournüre.

Die Aufträge im Hause Worth wuchsen während der 60er Jahre ins Gigantische. Der Hof von Napoleon III. gab drei bis vier große Bälle im Jahr mit 4.000 bis 5.000 Gästen. Jeden Montag veranstaltete Eugenie einen Kostümball, zu dem um die 400 Gäste eingeladen wurden. Die Minister gaben Bälle, die Botschafter und die Hofgesellschaft. Schließlich waren da noch Theaterbesuche, Soireen und Diners, Nachmittagsempfänge und Einladungen in die kaiserliche Sommerresidenz in Compiegne. Und schließlich brauchte man noch Morgenkleider, Kostüme, Hauskleider, Negligés etc. Wenn man sich diesen Wirbel von Aktivitäten vorstellt und dazu die Tatsache, daß es unmöglich war, ein Abendkleid zweimal zu tragen, kann man sich ungefähr vorstellen, mit welchen Auftragsmengen Worth fertig werden mußte, obwohl er natürlich bei weitem nicht alle Kleider lieferte. Dazu kam noch, daß er häufig im letzten Moment veränderte und verbesserte, so daß viele Kundinnen kurz vor einer Festlichkeit noch einmal zu ihm kamen, um ihre Toilette überprüfen zu lassen.

Eines Tages lag Worth mit einer Migräne auf seinem Sofa, während unten eine verzweifelte Fürstin Metternich und ihr Troß auf sein Erscheinen warteten, bevor sie zu einem Ball in den Tuilerien gingen. Pauline faßte sich schließlich ein Herz und kletterte in den 2. Stock, in dem sich eine kleine Wohnung befand. Nach langem Sträuben willigte er schließlich mit ersterbender Stimme ein, die Gesellschaft zu begutachten: „Er nahm die Kompresse von den Augen, und nachdem er die Unglückliche, die, vor ihm stehend, auf seinen Urteilsspruch wartete, eingehend gemustert hatte, sagte er langsam: ,Schrecklich – Lächerlich – Entsetzlich.‘ Man kann sich die allgemeine Verzweiflung vorstellen. Da hatte ich den Einfall meines Lebens. Ich rief: ,Monsieur Worth, Sie unterzeichnen heute Ihr Todesurteil. Das ist Ihr Ende.‘ Daraufhin sprang er von seiner Chaiselongue auf, riß die Kompressen und die Binde herunter und brüllte wie ein General vor seiner Truppe: ,Vorwärts, marsch!‘ – Es gibt eben schöne Augenblicke im Leben.“

Obwohl ein großer Teil seiner alten Kundschaft nach dem Krieg verschwunden war, florierte Worth' Geschäft weiter. Denn jetzt kamen in verstärktem Maße die Amerikanerinnen nach Paris. Worth mochte ihre unkomplizierte Art, und noch besser gefiel ihm, „daß sie nie nach dem Preis fragen“. Der Erfolg von Worth ist undenkbar ohne die Techniken der Massenproduktion, die er dankbar begrüßte. Ohne die Nähmaschine oder Maschinen, die Spitzen und Besätze herstellten, wäre er nie in der Lage gewesen, die geforderten Kleidermengen zu liefern. Er entwarf eine Reihe von Schnitten für Krägen, Ärmel, Oberteile und Röcke, die maschinell fabriziert wurden, jedoch miteinander kombiniert werden konnten. Die Mode mochte sich verändern, aber die Basisteile blieben doch mit geringfügigen Veränderungen ziemlich lange gleich. Schließlich verkaufte er Schnittmuster und Modellkleider für exorbitante Preise nach Amerika, wo sie für einen riesigen Markt kopiert wurden. Er konnte seine sensible Künstlerseele gewiß nicht in jedes Kleid legen, aber sympathischerweise waren es nicht immer die reichsten Kundinnen, die er mit all seinem Können bediente.

Die Frau des Romanciers Octave Feuillet beschreibt in ihren Memoiren, wie sie bei Hof vorgestellt werden sollte und ihre Schneiderin ihr am Tag vorher ein unmögliches Kleid ablieferte. In ihrer Verzweiflung fuhr Madame Feuillet morgens um vier Uhr zu Worth, der sie an seine Bettsäule gelehnt betrachtete und dann flüsterte: „Ein Kleid aus lila Seide, über und über mit Tuffs aus Tüll bedeckt, in jedem ein Maiglöckchenstrauß versenkt, darüber ein weißer Tüllschleier gehaucht, ein Gürtel mit flatternden Enden wie die Schleifen der Genien auf dem Triumphwagen der Venus.“ Madame Feuillet blieb den ganzen Tag bei Worth. In einer Ruhepause schrieb sie an ihre alte Amme in der Normandie: „Er ist sehr liebenswürdig, dieser Monsieur Worth, er meint, ich wäre ,chic‘, ein Wort, das Du wahscheinlich niemals gehört hast und das eine persönliche Eleganz bedeutet, eine Eleganz, die eine bestimmte Physiognomie hat.“