Etwas wird Grabner schon sagen

Stasi-Akten schließen, Amnestie, Verjährung – die Stimmen mehren sich, die einen wie auch immer gearteten Schlußstrich unter die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit fordern. Dabei ist diese Vergangenheit noch höchst lebendig  ■ Von Jürgen Fuchs

Nun finden wieder Anhörungen und Tagungen statt. Die SPD lädt in den Raum 376 des Abgeordnetenhauses ein, die CDU ins Forum- Hotel. Das Neue Forum kämpft ums Überleben. Bärbel Bohley stellt seit Anfang diesen Jahres – wie vor Zeiten – ihr Atelier zur Verfügung an einem Montag abend im Monat, „die Lage besprechen und nicht aufgeben“, sagt sie. Gysi und seine Anwälte überziehen Bürgerrechtler und Zeitungen mit ihren Unterlassungsklagen, hohe Strafsummen werden angedroht. „Wir müssen schon wieder aufpassen“, sagt Katja Havemann. PDS-Pressesprecher Harnisch sitzt lachend auf einem Fahrrad, da drüben rollt ein roter Trabant, wer wird denn klauen? Die Geschichte ist gelaufen, die SED trägt einen anderen Namen, die Täter fühlen sich wohl im neuen System. Am Rande stehen wieder die Querulanten die „Neurotiker“, denen es an Anpassungsvermögen und -willen mangelt: wie vorher auch.

Der Regierende Bürgermeister Diepgen plädiert für eine „Korrektur des Umgangs mit der DDR- Vergangenheit“, er will das Stasi-Unterlagengesetz ändern, über „Vorkommnisse vor 1980 sollen keine Auskünfte mehr erteilt werden“. Selbstverständlich, sagt er gleich zu Anfang, dürfe man aber nicht die Augen verschließen vor den „Wünschen und Bedrängnissen, insbesondere der Opfer“. Wie leicht und redundant das daherkommt, „insbesondere der Opfer“. Ministerpräsident Höppner will seine ostdeutschen Amtskollegen für eine Initiative zur Versöhnung mit der Vergangenheit“ gewinnen. Das klingt wirklich toll!

Im Wörterbuch steht bei „versöhnen“: „mit jemandem Frieden schließen, einen Streit mit jemandem beilegen. Mittelhochdeutsch versüenen, versuonen, sühnen, gutmachen, aussöhnen, versöhnen“. Und es steht der Hinweis: „zu Sühne“. Mit Sühne hat das also auch zu tun. Ist das schon wieder zu genau? Oder zu pathetisch, zu moralisch? Da klingt das doch zupackender, politischer, realer: „Die Bürgerrechtler haben jetzt beinah die letzte große Chance, die Bedingungen der Versöhnung zu definieren. Wenn sie es nicht machen, werden es andere tun ... Spätestens mit der Europa-Wahl ist die PDS, das mag einem gefallen oder nicht, zur Erbin der friedlichen Revolution geworden, das heißt sie repräsentiert heute überwiegend den Protest in Ostdeutschland. Ach so, Joschka Fischer. Was ist denn das für ein Protest? IM „Heiner“ kämpft um die Rechte der Studenten? IM „Notar“ gar für die Erniedrigten und Beleidigten der ganzen Welt? Na hoppla, ihr Dissis, ihr Kleingruppenidioten, ihr Einzelkämpfer von gestern, definiert mal die Versöhnung! Das ist die letzte große Chance für Euch! Euer letzter Auftritt, sonst ... Nicht so hastig, Joschka, so schnell können sich Havemann und Heinz Brandt auch nicht mehr umdrehen in ihrer Biographie, ihrer Erde. Die vor uns nicht ganz vergessen. Dann gibt es auch noch Fakten, die Realität und diesen unberechenbaren Gang der Dinge. Wer weiß, in welcher Runde wir uns befinden.

Dem Zwang, der Lüge widerstehen, Zivilcourage einfordern: Bei Anhörungen und Tagungen zum Thema Diktatur, Demokratie und Erinnern gehört das zu den gängigen Vokabeln. In der jeweiligen Gegenwart sieht das dann etwas anders aus.

Das Spitzel-, IM- und Blockwartsystem, in Deutschland recht traditionsreich und unmittelbarer Gefährte gräßlicher Taten, sehr klein im Alltag vorbereitet, kann wieder auf mehr Verständnis hoffen. Wortreiche „Kulturmoderatoren“ werden bald erneut auf Sendung gehen, wie es aussieht und sich anhört aus Potsdam und anderswo. Wer wird dann nachtragend sein? Oder etwas einfordern? Versuche von Opfern, die bezahlten oder zumindest belohnten IMs juristisch zur Verantwortung ziehen zu lassen, sind an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes gescheitert. Dieser hat den Straftatbestand der politischen Verdächtigung auf „Exzeßfälle“ wie schwere, offensichtliche Menschenrechtsverletzungen eingeschränkt. Selbst wenn eine Strafe von vier Jahren zum Beispiel wegen versuchter „Republikflucht“ das Ergebnis von Spitzelberichten war, hat die heutige Rechtsprechung dies toleriert. Begründung: Die Strafe sei nach Praxis der DDR nicht grob ungerecht gewesen. IMs wurden so also freigesprochen. Loyales, staatsbürgerliches Verhalten in einer Diktatur gegenüber der Obrigkeit – bis hin zum Anzinken von Andersdenkenden – lohnt sich also doch. So viel ist nicht zu befürchten. In „Übergangszeiten“ könnte man den Job verlieren, aber dann? Wenn die Stimmen aus Potsdam und Magdeburg drängender werden, wenn die IMs sogar schon im Parlament sitzen, wohlgemerkt, nicht in der Volkskammer, ist es bald überstanden. Keiner der vollmundigen Wortführer der gesamtdeutschen Normalisierung und friedlich koexistierenden Restauration dieser Jahre will keine Vergangenheitsbewältigung! Die wollen sie alle! Frieden wollten ja auch alle. Oder Sicherheit, Ordnung, Recht und Gesetz. Aber was heißt das dann? Und was heißt es für wen?

Als ich nach 1989 wieder mal in Jena las (über fünfzehn Jahre waren vergangen, Rausschmiß aus der Uni, Knast und Ausbürgerung, auch Einreiseverbot lagen dazwischen), lud mich der Rektor der Friedrich-Schiller-Universität zu einem Gespräch ein. Er beklagte die „feige Repression“ von Partei, Staat und Uni-Gremien, versprach einen „Neuanfang“, eine „demokratische Erneuerung“. Ob er „Wiedergeburt“ sagte, weiß ich nicht mehr. Es waren hohe, verheißungsvolle Töne jedenfalls. Er fragte auch nach „eventuellen Forderungen“ meinerseits. Ich mußte grinsen, schüttelte dann den Kopf und wünschte mir unbescheiden einige Leute herbei, die gute Vorlesungen halten können und keine Arschkriecher waren zur Honecker-Zeit. Zwei Namen nannte ich, DDR-Bürger bis 89, Wissenschaftler, „aus kaderpolitischen Gründen“ nicht vorgelassen zu einer Professur, nix von wegen habil., internationale Kongresse und zahlreiche Veröffentlichungen. Die verantwortlichen IMs vor Ort hatten „berufliche Mißerfolge“ organisiert, scheinbar korrekt, nach Recht und Gesetz. Die Mielke-Zersetzungsvarianten der „Richtlinie 1/76“ fanden offizielle (und legendierte) Anwendung ... Der erste demokratisch gewählte Rektor nickte, verwies auf das von ihm geleitete „Unabhängige Wissenschaftler-Komitee für politische Rehabilitation in akademischen Angelegenheiten“, er verwies „auf zutiefst beeindruckende Briefe von denen, die Unrecht erlitten hatten“. Die Universität erkenne „ihre Verpflichtung, vergangenes Unrecht öffentlich zu machen, Berichte von Zeitzeugen über Formen und Folgen des Aufbegehrens für die geistige Situation der Gegenwart zu nutzen“. Na schön, dachte der Zeitzeuge, mal sehen, klingt gut. Etwas störte mich, was genau, konnte ich nicht gleich sagen. Jetzt haben wir 95. Hat die Friedrich- Schiller-Universität die Misere der IM-Hochschullehrer öffentlich thematisiert? Nein. Einige gingen weg, andere wurden mit Blumensträußen verabschiedet, kamen anderswo gut unter. Vergeblich fragen die Studenten nach. Das Stellenkarussell drehte sich, wer ist schnell, wer rutscht rein aus Mainz und Göttingen, wer kann bleiben von den gewendeten Kadern? Was ist mit den politisch ausgebremsten Leuten, die in Vorlesungen und Seminaren die anregenden Stichpunkte gaben und Prügel bezogen in Kader- und Parteigesprächen? Die bleiben im Abseits. Zwei Namen nannte ich: Dr. Edith Wolf, Psychologin, wurde 93 gekündigt, „aus fachlichen Gründen“. Sie war die einzige, die öffentlich forderte, „die Atmosphäre der Angst konkret zu benennen, mit Namen und Adressen“. Und ein anderer, Dr. K., bekam in diesen Tagen einen Brief von seinem vorgesetzten Professor: „Nachdem ich das Lehrprogramm des Instituts bereits über das Dekanat weitergegeben habe, macht mich der Dekan darauf aufmerksam, daß ich Ihre Vorlesung habe passieren lassen. Nun haben Sie gewiß Verständnis dafür, wenn ich Sie bitte, die Veranstaltung als Übung oder Kolloquium anzukündigen. Sie kennen ja die Situation der Universität, derzufolge ohne Venia legendi keine Vorlesungen zu halten sind. Gelegentlich gab es Ausnahmen beim Neuaufbau der Fächer ...“ Dr. K., Zersetzungsopfer des Stasi- Operativvorgangs „Pegasus“, hat keine B-Promotion. Er weigerte sich, IM zu werden, zwei Jahre „bearbeitete“ man ihn, man versprach eine steile wissenschaftliche Karriere. Da er nicht einwilligte, fehlen ihm jetzt die akademischen Weihen. Sorry. Kann man nix machen.

Auch das „2. Unrechtsbereinigungsgesetz“ löst solche Probleme nicht. Erklärte mir heute ein kundiger Rechtsanwalt. Man habe das bewußt nicht aufgenommen, weil sich solche Benachteiligungen schlecht nachweisen lassen. Der Gesetzgeber, sagte er, schreckte zurück, weil es sich praktisch nicht regeln läßt ...

Also Akten zu, Schlußstrich, Amnestie, Verjährung, alles Bagatelldelikte? Auch wenn hinter den Partei- und Stasi-Kulissen kundige Leute nach Vorschriften „politisch-operativ die aktiven Maßnahmen“ zusammenzurrten und durch IMs und andere „Partner des politisch-operativen Zusammenwirkens“ verwirklichen ließen? Brave Beobachter haben nun langsam auch von der Sprache die Nase voll: „Zersetzung“, „Zusammenwirken“, das kotzt einen irgendwann an, nicht wahr? Fremdworte gehen ja noch, die kann man nachschlagen im Duden, „Venia legendi: Erlaubnis, an Hochschulen zu lehren“. Noch Fragen? Hat der Rektor noch irgendwas gesagt? Nein. Etwas wäre noch wichtig gewesen. Er hat es aber nicht gesagt, obwohl es ganz und gar zum Besprochenen dazugehört hätte. Es wäre ein Beitrag aus eigener Erfahrung gewesen zu dem, was in gehobenen Worten daherkam im Hauptgebäude der altehrwürdigen Universität. Sehr konkret hätten wir anschließend sprechen können über Schuld und Versöhnung, über Vergebung und Schlußstrich. Auch über das schreckliche Wort „Aufarbeitung“. Über all diese Themen von Anhörungen und Tagungen hätten wir sprechen können. Allerdings konkret, ohne diese sülzige Verarschung und Abwiegelung, die heute so sehr um sich greift: Wir hätten sprechen können über den IMB „Physiker“, Registriernummer MfS XV 5341/82, „laufend“ geführt, also bis zum Ende der DDR, von der Hauptabteilung XX/8 für das Hoch- und Fachschulwesen der DDR. Von der Gauck-Behörde aufgefunden im Jahre 1991, wahrscheinlich aus dem „vorvernichteten Material“, aus Säcken und eilig zusammengeschnürten Bündeln. Als „Klarname“ eingetragen vom MfS: Professor Ernst Schmutzer, der mich als „erster demokratisch gewählter Rektor“ in Jena begrüßt hatte nach der sogenannten Wende.

Bei einer Tagung der Heinrich- Böll-Stiftung in Weimar hatte Heinrich Fink die Humbold-Universität vertreten, er bediente sich eines ähnlichen Vokabulars. Man hatte den Eindruck, mit Widerständlern der Opposition zu sprechen. Als im April 1982 der wirkliche Oppositionelle Robert Havemann in Grünheide starb, auch er ein Naturwissenschaftler und bis in die sechziger Jahre hinein durchaus „kooperationsbereit“ gegenüber Staat und Partei, fand in Jena die Werbung des IMB „Physiker“ statt. Da hätte man schon einiges wissen können über die Mechanismen der Macht und die Möglichkeit der Verteidigung der persönlichen und wissenschaftlichen Integrität. Da hätte man nicht mehr „im Interesse des MfS die Internationale Gesellschaft für Gravitation und Relativitätstheorie und die Leopoldina mit ihren zahlreichen Verbindungen zu Wissenschaftlern in westlichen Ländern“ ausforschen müssen, um den Geheimdienst „in den Besitz operativ relevanter Informationen“ zu bringen. Da mußte man nicht in der ersten Reihe Platz nehmen, wenn die Diktatur überwunden werden sollte durch demokratische Auseinandersetzungen. Oder doch? Sollte man „nach vorne gehen“? Was hat der zuständige Führungsoffizier Major Grabner gesagt? IMB „Physiker“ war Reisekader im westlichen Ausland, er war parteilos, Carl Friedrich von Weizsäcker zählte zu seinen geschätzten Diskussionspartnern. Vielleicht hat Grabner gesagt, alle Akten sind vernichtet.

Ich weiß nicht, was Grabner gesagt hat. Wer ihn heute fragt, wird schon etwas zu hören bekommen von Grabner. Etwas wird Grabner schon sagen. Und der andere, der schwieg und sich also nicht losriß von der „Erfassung“ von der Abhängigkeit? Alles gefälscht? „Nur Reiseberichte“? Keine Ahnung, wer die Herren waren? Wird er klagen, dementieren? Ich weiß nicht.

Dieses Verbleiben in der Lüge, der Konspiration und der geheimen Macht ist es, was mich empört. Und dazu noch das Reden vom „Schlußstrich“ und davon, "keine neuen Verletzungen zuzufügen“ (W. Schäuble). IMB „Physiker“ hat neue Verletzungen zugefügt. Nach der falschen Erfüllung (E. Bloch) des realen SED/ MfS-Sozialismus der verlogene Neubeginn.

Jena als Beispiel. Die Stadt mit den meisten Staatsfeinden pro Einwohnerzahl, wie es die Stasi bilanzierte, läßt sich arbeitslos und politisch still machen? Ich setze auf die demokratische Opposition, nicht auf das schadenfrohe Lächeln der IMBs und gewendeten alten Kader. Wo sind die Studenten und Lehrlinge, die sich einmischen in ihre eigenen Angelegenheiten? Es gibt ja eine Tradition.