„Ziviler Ungehorsam macht sich bezahlt“

■ Manfred Stenner, Geschäftsführer des Netzwerks Friedenskooperative in Bonn, zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über Sitzblockaden und dessen Konsequenzen

taz: Herr Stenner, das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, daß Sitzblockaden vor militärischen Einrichtungen nicht als Straftatbestand der Nötigung gewertet werden dürfen. Empfinden Sie als einer, der für Sitzblockaden mehrfach verurteilt wurde, jetzt Genugtuung?

Manfred Stenner: Natürlich empfinde ich das. Das Urteil ist aber auch Ermutigung für all diejenigen, die sich heute im Bereich Asyl, der Flüchtlingshilfe oder dem Kampf gegen Abschiebung engagieren. Sie kratzen heute ja auch an den Gesetzen herum. Es hat sich gezeigt, daß sich der zivile Ungehorsam gegen ungerechte Gesetze, Gerichts- und Strafverfahren auf die Dauer bezahlt macht.

Müssen die früheren Verurteilungen jetzt nach dem Urteil revidiert werden?

Es gab insgesamt wohl an die 10.000 Verfahren. Ich bin ziemlich sicher, daß es zu einer Welle von Wiederaufnahmeverfahren kommen wird. Auch nach zehn Jahren werden jetzt viele vor Gericht gehen und ihre Strafen für ungültig erklären lassen wollen und eine Haftentschädigung fordern. Das halte ich für angemessen.

Was bedeutet das Urteil für die Widerstandsform Sitzblockade. Ist da nicht die Luft raus, wenn der gezielte Regelverstoß juristisch gesehen keiner mehr ist?

Ich bin unsicher, was von der Aktionsform bleibt. Immerhin haben wir aber eine Aktionsform durchgesetzt, die direkt vor Ort engagiert eingreift und tatsächlich ein kleines Sandkorn im Getriebe ist. Möglicherweise finden die Medien das nicht mehr so spannend, weil sich die Beteiligten anscheinend ja nicht mehr strafbar machen.

Die Nötigung ist weg, es bleiben aber Rechtsvorschriften, die den gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr oder den Verstoß gegen das Versammlungsgesetz bestrafen.

Mit dem Urteil haben wir natürlich keinen Persilschein gewonnen. Das Skandalöse an der alten Rechtssprechung ist aber endlich vom Tisch – dieser vergeistigte Gewaltbegriff, nach dem Menschen, die sich vor die Einfahrt eines Militärgeländes gesetzt haben, angeblich auf den Soldaten psychische Gewalt ausüben, der in das Gelände fahren will. Interview: Wolfgang Gast