Weit ins Freie

Ein Rückblick auf die Pariser Modenschauen  ■ Von Anja Seeliger

Die Schauen sind vorüber, was bleibt? Ein paar schöne Kleider und ein paar Gedanken zu den seltsamen Wesen, für die diese Kleider bestimmt sind: den Frauen. Das Spiel mit den Geschlechterrollen war ein wichtiges Thema in Paris, doch wurde es in der Regel mit einer lächerlich anmutenden Ängstlichkeit angefaßt. Kaum ein Designer ließ es sich nehmen, selbst äußerst smart geschnittene Anzüge mit hohen Hacken zu präsentieren – als gingen Anzüge und flache Absätze bereits zu weit. Die beiden ältesten Damen im Modegeschäft hatten mit solch zaghaften Kinkerlitzchen nichts am Hut: Vivienne Westwood und Rei Kawakubo.

Westwood widmete ihre Kollektion den großen Huren des Seconde Empire. Gleichzeitig huldigte sie damit einem vor genau hundert Jahren verstorbenen Landsmann, bei dem, neben dem gesamten europäischen Adel, alle Kurtisanen dieser Epoche arbeiten ließen: Charles Frederick Worth, in die Geschichte eingegangen als Erfinder der Haute Couture. Worth war für ein paar frivole Ideen immer zu haben, so prolongierte er nachdrücklich den fußfreien Rock und den scharlachrot eingefärbten Unterrock, zwei Neuheiten, die die Gemüter damals in unvorstellbarem Ausmaß beschäftigte. Auch Westwood liebt ein paar handfeste Frivolitäten. In einer Zeitschrift war einmal ein Foto abgebildet, auf dem eine Korsage den Busen des Models zu voluminösen Halbkugeln hochpreßt. Zu diesen grotesk ausgestellten Rundungen sieht mit verzückten Augen ein auf die Korsage aufgedruckter Puttenkopf hoch, der den Mund gierig weit geöffnet hat, als tröpfele gleich die Milch runter. Mrs. Westwood widmet sich dem Thema Sex mit Intelligenz und Humor: eine Kombination, so selten wie ein weißer Trüffel in der Wüste Gobi. Die Idee, den Kokotten des 19. Jahrhunderts zu huldigen, endete jedoch in einer Sackgasse.

Bei Worth hatte das Entblößen seine Grenzen. Frauen, die nach einem gar zu unschicklichen Dekolleté verlangten, schickte er zum Juwelier. Tatsächlich gingen die Kurtisanen zu ihm, weil sie wie Damen gekleidet sein wollten. Der mondäne Einschlag ergab sich eher aus der Verwendung frivol abgewandelter männlicher Kleidungsstücke: Ein Frack aus gelbem Samt oder eine militärisch anmutende Jacke mit strengem Revers und großen Taschen. Diese männlichen Accessoires sind heute jedoch ein so selbstverständlicher Bestandteil der weiblichen Garderobe, daß sie niemandem mehr auffallen. Westwood versuchte das Dilemma zu umgehen, indem sie ihren Models einen falschen Jayne-Mansfield-Busen umschnallte, für den sie vorsorglich große Ausbuchtungen in die Kostümjacken gearbeitet hatte. Dort ragte er nun weit ins Freie, was lustig aussah, das Kokettieren mit dem männlichen Einschlag jedoch kaputt machte.

Davon mal abgesehen zeigte ihre Kollektion aufs schönste jenen Frauentyp, den eine englische Zeitung als „Miss Marple on acid“ bezeichnete. Trefflicher läßt sich das kaum formulieren. So zeigte sie in Paris einen lächerlich konventionellen grauen Rock mit gebügelten Falten, der aussah, als sei er für den ersten Theaterbesuch eines Mädchens aus gutbürgerlichem Elternhaus bestimmt. Hüfte und Hinterteil waren jedoch mit Kissen ausgestopft, die die Silhouette zu einem Cul de Paris verformten. Man kann es auch einen Kugelarsch nennen. Dazu eine stark taillierte kurze Kostümjacke und weiße Pumps mit 30 Zentimeter hohen Plateausohlen. Man sollte meinen, daß man in diesem Kostüm noch in der Haustür wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet wird. Doch weit gefehlt. Das Ensemble war nicht im geringsten ordinär, sondern erhielt einen untadelig damenhaften Anstrich durch einen feingestrickten marineblauen Pullover, kurze Perlenkette, Spitzentaschentüchlein und ein Seidentuch.

Westwood macht die elegantesten Kostüme der Welt. Um jedoch mit ihrer damenhaft-exzentrischen Seite fertig zu werden – mit den Culs, Plateausohlen, Schottenmustern in schreienden Farben, die mit eleganten Watteaufalten an der Rückseite einer Jacke oder großmütterlichen Spitzenjabots an einem Seidenblüschen kombiniert sind – braucht es ein gewisses Alter. Man sieht sie im Geiste eher an angemessen würdevollen Damen wie Ethel Barrymore oder den ältlichen Schwestern aus „Arsen und Spitzenhäubchen“, als an Naomi Campell. Westwood macht eindeutig Kleider für Erwachsene, die erleichtert aufatmend das Naiven-Alter hinter sich gelassen haben.

Doch die erstaunlichste Exzentrikerin von allen ist Rei Kawakubo von Comme des Garçons. Sie zeigte eine Kollektion, die komplett verrückt war, und das meine ich im klinischen Sinne. Hauptbestandteil der vorgestellten Garderobe waren Jacken und Mäntel, deren Ärmel nicht an der Seite, sondern vorne herabhingen. Um die Schultern und Oberarme waren sie so eng, daß die Arme zusammengepreßt wurden, und in dieser Haltung allerdings dann auch gut in die Ärmel paßten. Die Ähnlichkeit mit einer Zwangsjacke war mehr als nur oberflächlich. Ein Model trug dazu einen weißen wadenlangen Tüllreifrock, der hinten etwas hochgerafft war, als vernachlässige die Frau ihre Kleidung: eine Braut auf dem feierlichen Weg ins Irrenhaus.

Dann gab es einen Rock, der wie ein Osterei geformt war, aus dem unten Tüllreste ragten. Darüber war ein genau gleicher Rock nicht angezogen, sondern vorne an der Taille befestigt, so daß er schräg nach vorne abstand und man wie in ein Rohr hätte hineinsehen können, wäre er nicht mit weißem Tüll ausgestopft gewesen. War dieser zweite Rock hinten angebunden, konnte man noch glauben, es handele sich um eine besonders schräge Abart der Turnüre. Aber vorne getragen sah es aus, als trüge das Model, hm, ein mit Watte verstopftes Loch spazieren. Die einzig angemessene Reaktion auf diese Kleider ist ANGST.

Bei anderen Jacken, die mit weißem Tüll umwickelt sind, so daß es auf den ersten Blick scheint, als könne man die Arme überhaupt nicht bewegen, sieht man dann, daß es an der Seite im Tüllstoff Schlitze für die Jackenärmel gibt. Wer die Arme bewegen will, darf das tun. Und schließlich sind da noch gerade herabfallende wunderschön bestickte Tüllkleider, wie Abendroben aus den 20er Jahren. Daß selbst diese Kleider bei der Vorführung einen so irren Eindruck machten, lag an der Art, wie Kawakubo sie vorführen ließ: Unter dem durchsichtigen Tüllkleid ein sehr kurzes Kleid aus beiger Baumwolle und darunter ein Kleid mit rot-weißen Karos, wie die französischen Tischdecken, dessen Saum unter dem Tüll hervorsah. Keines der Kleider reichte jedoch viel weiter als bis zum Knie. Darunter sahen man die weißen Beine des Models und Füße, die in weißen Schulmädchensöckchen und flachen Latschen steckten. Es war die verstörendste und aufregendste Kollektion, die ich gesehen habe. Aber Kawakubos Humor muß man erst mal gewachsen sein.

Interessiert sich hier jemand zum Abschluß für Trends? Ich hätte da ein paar anzubieten: Schneiderkostüme und -anzüge, Anzugjacken sind immer gegürtet. Schwarze Lackmäntel, Nylonanoraks, Bolerojäckchen. Was die Rocklänge angeht, wollte sich niemand so recht festlegen. Kurze Röcke und lange Röcke waren in fast jedem Programm vertreten, wirklich fashionable sind jedoch nur Glocken- oder Trapezröcke, die gerade das Knie erreichen, und gerade Röcke, die etwa zwei Finger breit über das Knie reichen. Ansonsten ist der Stil abhängig von dem Designer, den man wählt: 70er-Jahre Schlaghosen bei Sonia Rykiel, 50er-Jahre Kostüme – glamourös bei Dior, eher schlicht bei Chanel, Trapezkleider aus den 60ern bei Courrèges und Dries van Noten, und wer sich für die 90er einen klassischen Anzug aus Neopren wünscht, wird bei Gaultier fündig.