Karnevalisten gehen über Leichen

■ Ein zäher Bilderstreit in Rüsselsheim

Fünfzig Jahre nach Kriegsende werden in Rüsselsheim derzeit Kultur und Vergangenheit gleichermaßen bewältigt. 1992 malte Hans Diebschlag, Sohn eines Opelarbeiters und 1976 nach England ausgewandert, das Ölbild: „Wir lieben das Marschieren“. Drei Jahre hing es an der Stirnseite des Historischen Rathaussaales. Am Aschermittwoch wurde das Bild auf Anweisung der CDU- Oberbürgermeisterin Otti Geschka entfernt und erst einmal bis auf weiteres im Kellerdepot des Stadttheaters eingelagert.

Schon vor drei Jahren sorgte das in der Tradition des Realismus gemalte Kunstwerk für helle Aufregung in der Opelstadt. Diebschlag spielt mit seinem Gemälde auf die Automobilproduktion an – Opel ist der Arbeitgeber vor Ort – und auf den Rüsselsheimer Gardeumzug. Vorlage für die Arbeit waren Dias, die sein Vater 1965 aufgenommen hatte. Diebschlags bildhafte Gesellschaftskritik zeigt feiste und selbstgerechte Zeitgenossen beim Karneval auf der einen Bildhälfte, eine graue und formlose (Arbeiter-)Masse auf der anderen. Was die Gemüter letztlich zum Überkochen brachte, liegt allerdings unter den Füßen der Jecken: Durch den Asphalt leuchten die Schatten der Vergangenheit, sind Wehrmachtsoldaten und Tote zu sehen.

Angespielt wird mit solcherlei versteckten Bildmotiven auf eine Lynchaktion Ende 1944, bei der sechs alliierte Kriegsgefangene von Rüsselsheimer Bürgern und Bürgerinnen erschlagen wurden. In einem Kriegsverbrecherprozeß, dem ersten nach Ende des Zweiten Weltkrieges, wurden die acht Täter zum Tode verurteilt und gehängt.

Diebschlag selbst war dieses Kapitel jüngerer Rüsselsheimer Geschichte gar nicht bekannt, er wurde während des Malens von Atelierbesuchern darauf aufmerksam gemacht, was damals an den Bahngleisen geschah. Unter dem Eindruck der Brandanschläge in Mölln und Solingen versuchte er dann, einen Bogen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart von Nazi-Gewalttaten zu schlagen.

Die politische Dimension sei nicht der Grund gewesen, warum man das Bild habe entfernen lassen, meint man nun im Büro der Oberbürgermeisterin klarstellen zu müssen. Vielmehr, sagt Otti Geschka, „paßt das Bild einfach nicht in den alten Saal“. Der wurde 1952 erbaut und soll nun für repräsentative Zwecke hergerichtet werden und das „alte Rüsselsheim verkörpern“.

Der Künstler wirft der Stadt Vertragsbruch vor. Das Tafelbild sei extra für diesen Raum geschaffen worden. „Das kann ich auch schriftlich beweisen“, sagt Diebschlag, der der Hausherrin vorhält, „mit dem Bild umzugehen, als würde es in ihrem eigenen Wohnzimmer hängen“.

In Vorbesprechungen zu seiner Auftragsarbeit seien ihm die Maße der Wand durchgegeben worden, sogar Fotos vom Saal hätte man ihm übersandt. Die Rechtsabteilung überprüfte die Verträge und kam dagegen zu dem Ergebnis: „Die verpflichten uns zu gar nichts“, so Pressesprecherin Inge Grässle.

Die Mitglieder der vier Karnevalsvereine sehen sich durch das Bild verunglimpft. Als „Fasenachter, die wir den Leuten doch nur Freude machen wollen“, werde man sich nicht darstellen lassen als Karnevalisten, die über Leichen gehnen, hieß es. Und der Vorsitzende der „Schwarzen Elf“ und amtierende CDU-Stadtrat findet: „Der Kunstverein hat jetzt einen Schuppen, dort gehört das Bild hin.“

Mitnichten, denn das Bild soll wieder aufgehängt werden. Als „Allegorie zur Macht und Machtausübung gehört es ins Rathaus“, meint Kulturdezernentin Gabriele Klug (Bündnisgrüne) und möchte das Bild auch im neuen Plenarraum nicht missen. Doch dessen Wände sind halbrund, und das Bild ist schwer anzubringen. Ein neuer Ort ist noch nicht gefunden.

Der Streit um die Kunst brachte noch ein zweites Beispiel aus der eilig verdrängten Stadtgeschichte zutage: Der amerikanische Soziologe August Nigro beendete seine Studie zur Rüsselsheimer Lynchaktion und dem darauffolgenden Prozeß vor einem US-Militärgericht im Jahr 1989. Damals, vor sechs Jahren, lehnte der Magistrat der Stadt Rüsselsheim die Veröffentlichung des Manuskriptes – in dem die Namen der Täter genannt und der Tathergang erstmals im Detail rekonstruiert wird – ab. Mit Rücksicht auf die Kinder und Kindeskinder der Verurteilten, die hier leben und zum Teil auch politisch aktiv sind. Seit einem vor kurzem gesendeten Fernsehbeitrag der hr-Kulturredaktion „City“ wird in der Stadtverwaltung überlegt, ob man die Studie nicht doch einem Verlag anbieten sollte. Christine Peters