Ordnung in den Diskurs

■ Zur Arbeit des Michel-Foucault-Zentrums in Paris

Der Freund Gilles Deleuze hat ihn einmal einen „neuen Archivar“ genannt, und Archive spielten immer eine große Rolle für den Philosophen. Aber vielleicht nicht einmal Michel Foucault selber hätte sich träumen lassen, daß sein Nachlaß einmal zwischen Augustinus und dem Hl. Thomas aufbewahrt werden würde.

Als 1986 zwei Dutzend Freundinnen und Freunde Foucaults in Paris ein Zentrum mit seinem Namen gründeten, ging es vor allem darum, seine Arbeit einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Foucault hatte neben den Büchern eine Vielzahl von kürzeren Arbeiten verfaßt, die in Zeitungen, Zeitschriften und universitätsinternen Veröffentlichungen in der ganzen Welt erschienen sind; er wurde zu Vorträgen, Konferenzen und Diskussionen eingeladen, die oft nur auf Band dokumentiert sind.

Der Ort für die Unterbringung des Materials war schnell gefunden: eine private Dominikanerbibliothek im dreizehnten Pariser Arrondissement. In der Bibliothèque du Saulchoir (43 bis, rue de la Glacire) hatte Foucault an den letzten Bänden seiner „Geschichte der Sexualität“ gearbeitet. Heute befindet sich dort ein Archiv, das über beinahe die Gesamtheit der publizierten Texte Foucaults, unveröffentlichte Manuskripte und eine große Anzahl von Bandaufzeichnungen verfügt.

Auf diesen Audiokassetten sind die meisten der Vorlesungen Foucaults am Collège de France sowie wissenschaftliche Diskussionen in Berkeley dokumentiert, wo sich Foucault ab Ende der 70er Jahre regelmäßig aufhielt. Diese zum größten Teil unveröffentlicht gebliebenen Gespräche führte Foucault vor allem mit Paul Rabinow und Hubert L. Dreyfus; an einigen nahmen Philosophen wie Charles Taylor und Richard Rorty und Kritische Theoretiker wie Leo Löwenthal teil. Im Mittelpunkt der Diskussionen: die politische Bedeutung seiner Arbeit. Die Gespräche zeigen die Weiterentwicklung der Positionen Foucaults seit den 70ern und sind ein einmaliges Zeugnis eines Dialogs zwischen der Genealogie der Macht und der kritischen Gesellschaftstheorie.

Ebenfalls auf Band dokumentiert ist eine große Anzahl von Konferenzbeiträgen, Interviews, Vorträgen, darunter auch die Vorlesungen von Gilles Deleuze über Foucault. Die 1985 gehaltene Vorlesungsreihe bildet die Grundlage für das ein Jahr später erschienene Buch. Anders als in dem in einem knappen Stil verfaßten Text, zeigt sich hier ein anderer Deleuze: einer, der immer wieder an der Angemessenheit seiner Interpretation Foucaults zweifelt und seine Hypothesen geduldig den StudentInnen erläutert.

An Schriftmedien besitzt das Archiv die französischen Originalausgaben der Bücher Foucaults, Übersetzungen, Artikel, Interviews, Rezensionen, Briefe etc., deren Gesamtzahl sich auf etwa 400 beläuft. Darüber hinaus gibt es einen geringen Bestand an Sekundärliteratur, in größerem Umfang französische Magister- oder Doktorarbeiten zu Teilaspekten seiner Arbeit.

Mit dem im Oktober 1994 bei Gallimard veröffentlichten „Dits et écrits“ (vgl. taz vom 23.3.) geht eine Etappe in der Arbeit des Zentrums zu Ende. Nach der Herausgabe der vier voluminösen Bände konnte die Hauptaufgabe nicht mehr im Sammeln und Bereitstellen schwer auffindbarer Arbeiten Foucaults bestehen.

Die anstehende Umorientierung war das beherrschende Thema einer Mitgliederversammlung, die kürzlich in Paris stattfand. Im zehnten Jahr nach dem Tod Foucaults waren es jedoch weniger Gründungsmitglieder wie die Historikerin Michelle Perrot oder der Soziologe Daniel Defert, die die Diskussion bestimmten, sondern die jüngeren WissenschaftlerInnen. Statt der Dokumentation und Katalogisierung von Primärmaterial wird im Mittelpunkt der Aktivitäten der nächsten Jahre die Aufgabe stehen, die an Foucault anschließende Forschung zu sammeln, sie thematisch zu ordnen und allgemein zugänglich zu machen. Darüber hinaus sollen internationale Kontakte ausgebaut, in regelmäßigen Abständen Kolloquien organisiert und Informationsbriefe herausgegeben werden.

Der Umbruchprozeß wurde durch den Rücktritt von François Ewald als Präsident des Centre Michel Foucault symbolisiert. Dem Freund und engen Mitarbeiter Foucaults folgt eine Gruppe junger Forscherinnen und Forscher nach, mit dem Historiker Yves Roussel an der Spitze. Der Wechsel in der Organisation ist umso dringlicher, als ein weiteres gewaltiges Editionsprojekt in diesem Jahr in Angriff genommen wird: die Herausgabe der in Tonbandmitschnitten vorliegenden Vorlesungen Foucaults am Collège de France.

Foucault war 1970 als Professor für die „Geschichte der Denksysteme“ an die renommierte Pariser Bildungsinstitution berufen worden. Die Vorlesungen, die er dort bis zu seinem Tode 1984 hielt, decken ein weites Spektrum von Themen ab. Die hier vorgetragenen Reflexionen gingen oft in die später erschienen Bücher ein und sind eine wichtige Hilfe für deren Verständnis. Bis auf wenige Ausnahmen lagen allein die von Foucault redigierten Zusammenfassungen der Vorlesungsreihen in schriftlicher Form vor. Eine unvermittelte Verschriftlichung der vorliegenden Aufnahmen verbot sich zum einen wegen der besonderen Bedeutung, die Foucault der Form des mündlichen Vortrags gegenüber der Schriftform beimaß. Außerdem hatte Foucault testamentarisch verfügt, daß es keine posthumen Publikationen geben sollte.

Dennoch sind vor allem außerhalb Frankreichs immer wieder nichtautorisierte Fassungen der Vorlesungen am Collège de France aufgetaucht. Es erwies sich als unmöglich, das rechtliche Verbot effektiv durchzusetzen. Dafür gab es einen einfachen technischen Grund: Da Foucault den Einsatz privater Aufnahmegeräte während seiner Veranstaltungen erlaubte, existiert eine große Zahl von Bandmitschnitten der Vorlesungen am Collège de France. Um dem offensichtlichen Interesse Rechnung zu tragen und das Erscheinen von nichtautorisierten Fassungen zu unterlaufen, entschlossen sich die Verantwortlichen des Zentrums in Absprache mit den Erben Foucaults zu einer Kehrtwendung.

Zunächst wurde eine Herausgabe in Form von Kassetten erwogen (zwei Vorlesungen sind bereits bei Le Seuil in Paris unter dem Titel „De la gouvernementalité“ erschienen). Diese Lösung hatte allerdings den Nachteil, daß die teilweise mangelhafte Qualität der Orginalaufnahmen mit komplizierten technischen Verfahren verbessert werden müßte. Damit wäre die Ausgabe teuer geworden und zugleich auf den französischsprachigen Markt beschränkt geblieben. Daher wurde vereinbart, daß die Vorlesungen Foucaults in Buchform veröffentlicht werden. Diese Bücher werden in einem Verlagskonsortium erscheinen, dem unter anderem die Großverlage Gallimard und Seuil angehören, und sollen mit einem Umfang von jeweils etwa 250 Seiten die Vorlesungsreihe eines Jahres enthalten. Die erforderliche Editionsarbeit wird von einer dafür eingesetzten Gruppe von Forscherinnen und Forschern geleistet. Einen Großteil der Arbeit wird die Suche nach den zahlreichen von Foucault zitierten Quellen und Belegen einnehmen. Finanziell ermöglicht wurde dieses ambitionierte Projekt durch die Übertragung der Rechte an den Vorlesungen von der Familie Foucaults an das Zentrum. Nach der vorliegenden Planung sollen in einem Zeitraum von ungefähr zehn Jahren alle Vorlesungen Foucaults vorliegen. Die Antrittsvorlesung Foucaults am Collège de France ist schon lange greifbar. Ihr Titel liest sich heute wie das Programm zu dieser gewaltigen Editionsaufgabe: Die Ordnung des Diskurses. Thomas Lemke