Sowenig Berufsbetroffenheit wie möglich wollten die Veranstalter der Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald. Auf der Suche nach Erinnerungen irrten Hunderte Überlebende zwischen den ehemaligen Häftlingsbaracken umher – und fanden Leidensgefährten, die sie für tot gehalten hatten. Aus Weimar Thorsten Schmitz

Nur mit den Augen können sie reden

Mehrere tausend Flugkilometer hat Reuven Levi* zurückgelegt, von Tel Aviv nach Weimar. Um sich zu verabschieden. Doch nun muß der 74jährige erst mal einen Schock verarbeiten. Ans Revers hat er sich einen orangefarbenen Zettel geheftet, der macht ihn an diesem Samstag kenntlich: „Ehem. Häftling“ steht darauf. Zum erstenmal seit fünfzig Jahren steht der Mann wieder auf deutschem Boden: „Vielleicht“, grübelt Levi auf dem Parkplatz der Gedenkstätte Buchenwald, „hätte ich zu Hause bleiben sollen.“

Auf dem Parkplatz hat die Gedenkstättenleitung ein „Verpflegungszelt“ errichten lassen. Es ist so groß wie ein Fußballfeld und könnte so auch auf dem Oktoberfest stehen. Der Anstecker weist den in Berlin geborenen Israeli als Verpflegungsberechtigten aus; er darf Platz nehmen auf einem der weißen Plastikstühle. In weniger als drei Minuten dampfen vor ihm ein weichgekochter Hühnerschenkel und Gemüsereis. „Das war ja nicht immer so hier“, sagt Levi zynisch. Und läßt das kostenlose Mittagsmenü kalt werden. Der Schock macht ihn appetitlos. „Haben Sie den Sparkassenbus gesehen? Und die Tankstelle neben der Kommandantur?“

Zutrittsberechtigt zum Zelt sind nur die 1.500 ehemaligen Häftlinge. Normale Besucher, die vermutlich nicht wissen, was Hungern ist, schmausen unter freiem Himmel. Unmittelbar neben dem Zelt offeriert ein ortsansässiges „Partyteam für ein gelungenes Fest“ Erbsensuppe und Matjesbrötchen, Wodka und Glühwein.

Es ist auch ein lukratives Fest: fürs „Hilton“, in dem die 400 akkreditierten Journalisten fast ausnahmslos abgestiegen sind – zum „günstigen“ Wochenendgedenktarif), für die Apoldaer Stadtwerke, für den Tankstellen-Grossisten BP („24 Stunden Service mit 5 Sternen“), für die Innungskrankenkasse Thüringen, für ein Küchenmöbelfachgeschäft. Sie alle nutzen die mediale Präsenz auf einem Gelände, auf dem bis zur Befreiung am 11. April 1945 250.000 Menschen aus 51 Nationen kaserniert waren und 56.000 Menschen starben. Die Mitarbeiter der IG Medien aus Jena verteilen rote Rosen. „Das ist unser Beitrag zum Gedenken“, sagt einer.

Der Beitrag des Leiters der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, zum 50. Jahrestag der Befreiung ist Chaos. Hunderte polnischer und russischer, spanischer und holländischer, italienischer und deutscher Ehemaliger irren zehn Stunden lang zwischen den mit Funktelefonen ausgestatteten Sicherheitsbeamten und den uniformierten Polizisten über das Gelände. Auf der Suche nach Erinnerung lassen sie sich sechssprachige Zettel in die Hand drücken („Sie können darauf vertrauen, daß die Polizei nur dann einschreitet, wenn es unumgänglich ist“), schauen der Einweihung eines Denkmals für Sinti und Roma zu, reihen sich in die Schlangen vor den mobilen Toiletten ein, lassen sich von der Gedenkstätten-Direktion Fahrgeld erstatten, verlieren sich mit ihren gestreiften Halstüchern zwischen den übriggebliebenen Häftlingsbaracken – und finden Leidensgefährten, die sie für tot gehalten hatten. Und immer müssen sie damit rechnen, daß Journalisten sich einen Zeitzeugen schnappen und vor die Kamera bitten. Allein der MDR hat 100 Mitarbeiter nach Buchenwald abgeordnet.

Kleine Tragödien spielen sich ab. Im Flur der Jugendbegegnungsstätte kramt Stoba Piotr Ivanovich, 1920 in Moskau geboren, seine fotokopierte Vita aus einer Plastiktüte. An sein Jackett hat er 43 Orden gepinnt. Auf russisch versucht er, seinem Befreier Lawrence Ganzel, 70, klarzumachen, daß der ihn befreit habe. Mit großen Augen schauen sich die beiden alten Männer an, denn nur mit denen können sie reden. In ihnen liegt viel Vergangenheit. Ivanovich möchte, daß Ganzel ihm schreibt, aus Oregon. Ganzel, der Buchenwald befreite, indem er das Schloß der Lagertür zerschoß, ist hilflos. „What can I do for you?“ Einen Dollar will Ivanovich außerdem haben, „memory“, sagt er. Ganzel findet keinen in seinem Portemonnaie. Er gibt ihm einen Zehn-Dollar-Schein. Die beiden umarmen sich, soldatisch herb. Sie werden sich vermutlich nie wieder sehen.

Genau so was hat sich Volkhard Knigge, der respektlose Gedenkregisseur, gewünscht. Kein formelles Protokoll, sondern zufällige Begegnungen, Plaudereien zwischen Befreiern und Befreiten. Einen „zweiten Geburtstag“ nennt Knigge das, sowenig Berufsbetroffenheit wie möglich. „Wir wollen die Überlebenden nicht instrumentalisieren und keine Party für die Politik.“ An diesem Samstag, sagt Knigge, der in seinem Büro kurz verschnauft, „sind die ehemaligen Häftlinge die einzigen VIPs“. Der „Geburtstag“ in Buchenwald solle den sehr wichtigen Häftlingen die Möglichkeit geben, „sich von diesem Ort zu verabschieden“.

Und zwar aufrichtig und ehrlich. Denn die DDR-Nomenklatura zelebrierte in Buchenwald den Mythos vom ausschließlich kommunistischen Widerstand, das sozialistische Staatsgedenken blendete systematisch alle anderen Opfergruppen aus. In einer neu konzipierten Ausstellung, die am diesem Samstag erstmals präsentiert wird, werden nun auch die sozialen Strukturen der Häftlingsgruppen dokumentiert, Täterbiographien nacherzählt und wird der Lageralltag beschrieben, der Völkermord an den Sinti und Roma und auch das zweite Kapitel der Buchenwald-Geschichte: Bereits vier Wochen nach der Befreiung richtete das NKWD der Sowjets (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) das sogenannte Speziallager Nr. 2 ein, in dem zwischen 1945 und 1950 große und kleine Nazis interniert wurden, Schuldige, aber auch Unschuldige, wahllos Verhaftete und die große Gruppe der Sozialdemokraten, die zum Teil schon unter den Nazis im KZ gesessen hatten. 13.000 Menschen starben an Hunger, Seuchen und Krankheiten. Im Mittelpunkt der Ausstellung steht nun nicht mehr eine sentimentale Opferverehrung, sondern die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus.

Am Sonntag vormittag geschieht dann das, was Gedenkstättenleiter Knigge eigentlich unausstehlich findet: der offizielle Gedenkreigen im offiziellen Rahmen. Aber auch der Buchenwald-Überlebende und Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Jorge Semprun, darf reden. Der Spanier packt sein Resümee zur Gedenkfeier in eine vorsichtig formulierte Frage: „Wäre nicht ein meditierendes Schweigen die beste Hommage, die einzig wirklich akzeptable Ehrung für so viel schweigsamen Tod?“

(* Name von der Redaktion geändert)