Mutter heißt jetzt Mum

Christoph Hein hat ein Stück über den Alltag im vereinten Deutschland geschrieben. Eine Komödie ist es aber leider doch nicht geworden.  ■ Von Peter Walther

„Die Komödie sucht schlechtere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen“, heißt es in der „Poetik“ des Aristoteles. Mit „Randow“, benannt nach einer Landschaft nahe der oberen Oder, dem Schauplatz des Stücks, hat uns Christoph Hein nach seinem Roman „Napoleon- Spiel“ (1993) nun eine Komödie im aristotelischen Sinne beschert.

Alles andere, nur nicht zum Lachen, ist die deutsche Nachwende- Wirklichkeit, wie sie Hein in vierzehn Szenen vor dem Leser ausbreitet: Anna Andress, eine Malerin aus Ostberlin, hat vor wenigen Jahren ein Haus im beschaulichen Randowtal erworben, gelegen auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz, der bis zum Zusammenbruch der DDR unzugänglich gewesen war. Robert Kowalski, ein aus dem Westen an die polnische Grenze versetzter BGS-Beamter, hat ein Auge auf das schön gelegene Haus und die allein lebende Frau geworfen. Mit Hilfe von Bürgermeister Voß (ein alter SED- und Stasi-Mann, was sonst?) versucht der Westbeamte, die Malerin zum Verkauf des Hauses zu bewegen. Merkwürdige Dinge geschehen: Ein Feld in der Nähe des Hauses geht in Flammen auf, nach den Löscharbeiten findet man zwei rumänische Flüchtlinge mit Einschußlöchern im Schädel. Kurz darauf wird ein Hund namens Frosch, langjähriger Wegbegleiter der Malerin Anna, vergiftet aufgefunden. Das gibt Anna den Rest, sie entschließt sich, das Feld zu räumen. Neuer Besitzer des Anwesens wird jedoch nicht der kleine Grenzschutzbeamte Kowalski, sondern eine westdeutsche Holding, die vor Ort von dem alten Stasi-Mann Peter Stadel vertreten wird. Stadel, der Mann fürs Grobe, macht aus dem Gelände das, was es früher schon einmal war: eine verbotene Zone, abgesperrt mit Stacheldraht und bewacht von scharfen Hunden. Nur rollen jetzt nicht mehr NVA-Panzer über die lieblichen Hügel, sondern womöglich die Golfwägelchen der Besucher im neuen „Kongreß- und Ausbildungszentrum“.

Aus diesem Stoff ist sie also, die neue Wirklichkeit im Osten. Die kleinen Leute werden immer nur herumgeschubst, Opportunismus, nicht Ehrlichkeit wird belohnt, und als Ostler hat man ohnehin kaum eine Chance. Entweder dient man sich den westdeutschen Investoren an, oder man wird zum Alkoholiker, wie der Mann von Anna, der seit Jahren arbeitslos ist und auf Geschäfte mit Osteuropa setzt. Einzig Peter Stadel, einstiger Anführer einer Stasi-Spezialkampfgruppe, hat es richtig gemacht. Er sitzt mit seinem neuen Chef aus dem Westen „in der Lounge eines Berliner Hotels“ oder schlicht in der Sauna, strampelt sich im Fitneßcenter ab, trägt Designer-Klamotten und fährt „ein deutsches Auto“ – 180 PS. Auch der Chef von Stadel ist so, wie man sich im Osten einen richtigen Westler vorzustellen hat. Der Mann mit dem vornehm abgekürzten Doppelnamen Fred P. Paul ist in Wirklichkeit ein vulgärer Sozialdarwinist: „Humanismus, das ist eine Erfindung von Schwächlingen. Es ist widernatürlich. Natur, das heißt Kampf und Sieg oder Tod“, bleut er seinem neuen Jünger ein, der Ähnliches schon bei Mielkes Truppe vernommen haben mag.

Die Botschaft vom Kampf auf Leben und Tod durchweht die ostdeutsche Gesellschaft in der Komödie von Hein wie ein kalter Wind, auch auf dem Gymnasium von Annes Tochter Susanne hat man sich auf die neuen Gegebenheiten eingestellt und veranstaltet „Börsenkurse“, in denen Schüler lernen sollen, mit Aktien umzugehen. Natürlich nennt Susanne ihre Mutter längst nicht mehr „Mutter“, sondern Mum. Sie erkundigt sich bei ihr nach ihrem neuen Lover oder rechnet mit der Generation ihrer Eltern ab: „Ihr habt euch alle für irgendeinen Scheiß interessiert. [...] Ihr habt in den Kirchen gesessen und diskutiert, Mahnwachen abgehalten mit Kerzen, habt Manifeste fabriziert, selbstgedruckte Blätter, die kaum zu lesen waren.“ Das ist nix für die „fun generation“ von Susanne, dann doch lieber mit Sero-Aktien jonglieren – so sind die neuen Zeiten.

Alles das wäre als Überzeichnung tatsächlicher Zustände an sich irrsinnig komisch, wenn nicht Zeile für Zeile die besonders wertvolle moralische Absicht des Autors durchschimmern würde. Christoph Hein arbeitet sich an seiner Rolle als Moralist ab. In seinen Büchern war er freilich niemals ein Moralapostel von der platten Sorte. Das Lakonische seiner Erzählweise und sein Selbstverständnis als Chronist haben Hein, der aus einem schlesischen Pfarrhaus stammt, davor geschützt, literarische Predigten zu schreiben. Mit der Novelle „Der fremde Freund“ (im Westen unter dem Titel „Drachenblut“ erschienen) und dem Roman „Horns Ende“ war Hein dem Zeitgeist in Ost und West gleichermaßen nahe. Nirgendwo in diesen Büchern findet sich der Ansatz einer Lösung, die aus dem Fremdsein der Figuren in ihrem Alltag herausführen könnte, aber genausowenig wird die Ausweglosigkeit stilisiert.

Im „Tangospieler“ ist es ein bloßer Zufall, der den Helden Dallow für zwei Jahre in den Knast bringt. Er springt im Frühjahr 1968 in Leipzig für einen verhinderten Studenten als Tangospieler im Kabarettprogramm ein. Die Aufführung wird als staatsfeindlich verboten, sämtliche Beteiligten werden verhaftet und abgeurteilt. Die Erzählung schildert das Leben Dallows nach seiner Entlassung. Nicht mit berechtigter Wut oder mit politischer Untergrundarbeit begegnet der Held seiner Hafterfahrung und den herrschenden Zuständen, sondern mit Gleichgültigkeit gegenüber den Kapriolen des Schicksals. Das gewaltsame Ende des Prager Frühlings läßt Dallow kalt, er weiß, er kann an den Zuständen nichts ändern und hat es im übrigen auch nie gewollt – alles nur Zufall.

Als „Der Tangospieler“ 1989 in der DDR erschien, gab es kein anderes Buch, das die abgestandene Atmosphäre des Spätsozialismus, die Lähmung des öffentlichen Lebens besser beschrieb. Eine moralische Geste auf Umwegen, der ein viel direkterer Vorstoß voranging: Schon 1987, auf dem X. Kongreß des Ost-Schriftstellerverbandes, hatte er mit befreiender Deutlichkeit die DDR-Zensur als „überlebt, nutzlos, paradox, menschenfeindlich, volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar“ angeprangert.

Hein gehörte zu denen, die sich „für irgendeinen Scheiß“ interessiert haben, die „in den Kirchen gesessen und diskutiert (haben), Mahnwachen abgehalten mit Kerzen“ und „selbstgedruckte Blätter, die kaum zu lesen waren“ verbreitet haben. Das vor allem bestimmt seine Perspektive in der Komödie „Randow“. Wie an Deck des Narrenschiffs führt der Autor die neudeutschen Macken und Torheiten der Reihe nach vor, nichts wird ausgespart, die Bonzen von früher sind die Bosse von heute, die Jugend läuft nur noch dem Geld und dem Spaß hinterher, und die eigentlichen Gewinner der Vereinigung sitzen im Westen. Soviel daran auch wahr sein mag, in Heins Szenarium kommt bei allem Eifer nur die dünne Illustration der Marxschen Pointe heraus, daß die Geschichte ihre Wiederkehr zuweilen als Farce feiert.

„Randow“ ist keine Komödie, sondern ein bedauerlicher Fehlgriff. Die Abhandlung des Aristoteles über die komische Gattung ist leider verschollen, so daß wir mit den wenigen Andeutungen in der „Poetik“ zufrieden sein müssen. Vielleicht hätte Aristoteles das Rätsel lüften können, wie man „schlechtere Menschen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen, nachahmen“ und dabei mehr als nur Langeweile erzeugen kann.

Christoph Hein: „Randow. Eine Komödie“. Aufbau-Verlag, 119 Seiten, geb., 20 DM