Acetylsalicylsäure Von Martin Sonneborn

Das Wetter war schlecht, typisch April. Zum Glück hatte Frau Goergen einige Flaschen ihres Lieblingsgrappas mitgebracht. Also tranken wir und erzählten einander Geschichten, die uns in letzter Zeit so begegnet waren. „Stellt euch vor“, eröffnete Herr Otte, dieser trotz seiner Jugend schon weitgereiste Herr, eloquent, „Transkontinentalflug über Nordamerika! Das Flugzeug ist gerade gestartet, der Kapitän begrüßt über sein Bordmikrophon die Fluggäste mit dem üblichen Spruch, dann hängt er das Mikrophon ein, vergißt aber, es auszuschalten. Sein Seufzer, „And now: a blow-job and a cup of coffee!“ hallt also im ganzen Flugzeug wider. Sofort galoppiert eine Stewardeß aufgeregt in Richtung Cockpit, um das „hehe“ kleine Mißgeschick zu vermelden. Und hinten, ganz hinten aus der Maschine tönt völlig lakonisch eine Stimme: „You forgot the coffee!“ Überflüssig zu bemerken, daß Herr Otte für seine Anekdote mit herzlichem Gelächter belohnt wurde!

Frau Goergen, die mir mal unter vier Augen verraten hat, daß ihr Konsum an Acetylsalicylsäure große Teile unserer chemischen Industrie am Leben erhalte, leitete ihre Erzählung versiert mit einem rhetorischen Kunstgriff ein, der die Spannung bis ins äußerste steigerte: Eigentlich könne sie die Sache kaum berichten, sie stehe immer noch unter Schock. Als sie nämlich vor ein paar Wochen an einer Fußgängerampel in Köln gewartet habe, sei ein Knirps von vielleicht zehn Jahren dahergekommen, habe sie fixiert und dann hämisch gerufen: „Kein Abitur – aber zum Einkaufen reicht's, was!“ Frau Goergen, die nicht nur doch Abitur hat, sondern auch ein abgeschlossenes Wirtschaftsstudium und in ihrer Freizeit Fallschirm springt, blieb nach eigenen Angaben damals fast eine Ampelphase lang der Mund offenstehen. Auch diese kleine Episode belachten wir gern und ausgiebig.

Danach berichtete ich, wie ich vor zwei Wochen einmal in der Fleischerei meines Vertrauens in Berlin-Steglitz versucht hatte, den Schulterschluß zwischen aufgeklärter Studentenschaft und revolutionären Fleischersfrauen zu erzwingen. „Die ganzen Abgaben, ehrliche Arbeit lohnt sich doch heutzutage gar nicht mehr, was hat man denn am Monatsende noch auf dem Konto ...?“ hatte die Geschäftsbesitzerin hinter der Theke geschimpft. Als dann noch eine Angestellte einfiel – „Und die Politiker erhöhen sich noch immer die Diät!“ –, sah ich meine Chance gekommen: „Genau, deshalb werden die auch immer dicker!“ Merkwürdigerweise fand das niemand komisch, weder die Fleischerinnen noch die Grappatrinker um mich herum.

Viel belacht wurde hingegen wiederum die Geschichte des Sextaners Hossek, welche die Dame Tanja von einer Wien-Reise mitgebracht hatte. Hossek war dort im 8.Wiener Gemeindebezirk nämlich wieder einmal zu spät zum Unterricht erschienen. Und er erklärte daraufhin, er habe „auf dem Weg zur Schule eine Marienerscheinung gehabt“. Das hat der Lehrer dann auch widerstandslos im Klassenbuch vermerkt. Na ja, und so zog sich das hin, Stunde um Stunde. Die Geschichten wurden immer dubioser, und am nächsten Morgen sicherte unser Konsum an Acetylsalicylsäure großen Teilen der chemischen Industrie weiterhin volle Auftragsbücher.