Tod in der Murellenschlucht

■ Die letzten Tage des Krieges - eine taz-Serie (Teil 6) / Hinter dem Olympiastadion fanden am Kriegsende noch massenweise Hinrichtungen statt

Wer hinter den grünen Flecken, die der Berliner Stadtplan rund um das Olympiastadion verzeichnet, ein Naherholungsgebiet vermutet, der hat sich gründlich getäuscht: Der Großteil des Geländes zwischen den beiden Ausfallstraßen Charlottenburger Chaussee und Heerstraße ist eingezäunt. Schilder wie „Betreten verboten. Lebensgefahr“ wimmeln selbst den hartnäckigsten Spaziergänger ab. Hier trainiert die Polizei. Das Gelände hat das Land Berlin von den englischen Alliierten geerbt, die es wiederum von den Nazis übernahmen. Gegen Ende des Krieges haben hier, an dem Schießstand in der Murellenschlucht, massenweise Hinrichtungen stattgefunden.

Um in den letzten Kriegstagen die Truppen zusammenzuhalten, waren im Februar 1945 sogenannte Standgerichte eingerichtet worden. Sie hatten den Auftrag, jeden, der den Wunsch nach Beendigung der Kämpfe äußerte oder am Endsieg Deutschlands zweifelte, auf der Stelle abzuurteilten. „Die Urteile können nur auf Todesstrafe oder Freispruch lauten“, so die Anordnunug. „Die Vollstreckung findet durch Erschießen, wenn es sich um besonders ehrlose Lumpen handelt, durch Erhängen statt.“ Für die Ablehnung von Gnadengesuchen gab es Massenvordrucke. Die Urteile wurden vollstreckt, bis zum letzten Tag, im Namen des Volkes.

Auf dem Schießstand starben Hitlerjungen, Soldaten, Offiziere, Generäle durch die Kugeln ihrer ehemaligen Kameraden. Als Bestandteil ihrer Ausbildung wurden Jugendliche des letzten Aufgebots gezwungen, an den Hinrichtungen teilzunehmen. „Um ihre Nerven zu stärken“, wie es hieß. Helmut Altner war 18, als er an den Hinrichtungen teilnehmen mußte.

„Wir marschierten Richtung Schießstand. Der Feldwebel erklärte uns, daß heute Hinrichtungen stattfinden, denen wir zusehen müssen.

Neben dem Schießstand steht unter Bäumen ein kleiner, grauer Wagen. Die Fenster sind vergittert. Drei Männer sitzen darin. Zwei SS-Männer kommen und drücken den Häftlingen noch einmal die Hand. Frühere Kameraden. Dann verschwinden sie zwischen den Bäumen. Die Insassen des Wagens steigen aus. Alle tragen Handschellen. Einer raucht unbeholfen mit den gefesselten Händen die letzte Zigarette. Das Erschießungskommando hat Aufstellung genommen. Wir müssen zum Richtplatz.

Rechts neben dem Erschießungskommando nehmen wir Aufstellung. Die Kleinen vorn, damit ja jeder etwas sieht. Die Häftlinge drücken dem Geistlichen zum letzten Mal die Hand. Er hebt segnend seine Hände und tritt zurück. Die Verurteilten haben die Köpfe gesenkt. Der Jüngste ist 18, die anderen nicht viel älter. Das Kommando legt an. ,Lebt wohl, Kameraden!‘ ruft eine helle Stimme, dann senkt sich der Degen des Offiziers: ,Feuer!‘ Plötzlich sind alle Pfähle leer. Aus dem Holz läuft Blut, als wären sie es, die getötet wurden. Der Kleine hebt sich noch einmal empor. Aus seinem Mund läuft Blut. Der Arzt setzt die Pistole an die Schläfe und drückt ab. Ich habe einen bitteren Geschmack im Munde. Als wir abrücken, sind alle unnatürlich blaß. Vor dem Kasernentor überholt uns ein Auto. Fracht: drei Särge.“

Nach Schätzungen der Polizei wurden hier 400 sogenannte Wehrkraftzersetzer erschossen. Bis heute erinnert keine Gedenktafel an die Opfer. „Wir können den genauen Ort der Hinrichtungen doch gar nicht lokalisieren“, redet sich der Öffentlichkeitsbeauftragte der Polizei, Herr Held, heraus. Anderer Ansicht ist da eine Initiative zur Gestaltung der Murellenschlucht. „Zeitzeugen konnten sich bei einer Geländebegehung ziemlich genau an den Ort erinnern“, versichert der pensionierte evangelische Pfarrer Manfred Engelbrecht. Die Initiative fordert die Öffnung des Geländes und die Errichtung eines Mahnmals. Wenn es nach dem neuen Flächennutzungsplan geht, stehen ihre Chance hierbei garnicht so schlecht Kerstin Schweizer

wird fortgesetzt