Und wenn es viele Jahre dauert

Freiwillige ErmittlerInnen in Ex-Jugoslawien sammeln Beweise und Zeugenaussagen, die vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal der UNO in Den Haag verwendet werden können  ■ Aus Zagreb Britta Hilpert

Wenn Jadranka Cigelj im Lager Ranjir Golodvor vorbeischaut, dann schleppt sie regelmäßig Holz und Kohlen mit. Ein trostloses Lager, direkt an den Bahngleisen, mit einem trostlosen Namen. Ranjir Golodvor heißt nichts anderes als Rangierbahnhof, einen schöneren Namen zu finden, hat sich keiner die Mühe gemacht. Ranjir Golodvor ist ein Flüchtlingslager, kein offizielles, sondern eines der vielen wilden Lager rund um die kroatische Hauptstadt Zagreb. Weder die UNO noch die kroatische Regierung kümmern sich um die Gestrandeten am Rangierbahnhof. Sie sind darauf angewiesen, daß Leute wie Jadranka Cigelj etwas mitbringen.

Aber das Heizmaterial ist nicht der Grund, warum die Frau im Lager gern gesehen ist. Jadranka Cigelj bringt für die Menschen, die aus Bosnien-Herzegowina und aus der serbisch besetzten kroatischen Krajina geflohen sind, etwas viel Wichtigeres mit: die schwache Hoffnung auf Gerechtigkeit. Cigelj arbeitet für eine regierungsunabhängige Menschenrechtsorganisation. Sie sammelt Zeugenaussagen über Kriegsverbrechen.

Zweihundert- bis dreihunderttausend Flüchtlinge sind zur Zeit in und um Zagreb. Keiner will und keiner kann eine genaue Zahl nennen, sie ändert sich täglich. Der Krieg ist gerade mal eine Autostunde entfernt. Als Rechtsanwältin hat Jadranka Cigelj gelernt, wie mühsam eine lückenlose Beweisführung ist – aber sie weiß auch, das letztlich nur das entscheidet. „Jeder einzelne Flüchtling ist ein Zeuge“, sagt sie. Jedes der rund zwanzig Lager um Zagreb klappert sie ab, unzählige Berichte hat sie schon dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zugeleitet, Berichte über Mord und Totschlag, über Leid und schlimme Erfahrungen.

Aber brauchbare Aussagen sind schwer zu finden. Nur eindeutige Beweise können eine Anklage untermauern, jede Aussage muß von mindestens einer anderen Quelle bestätigt werden. Als Kroatin hat sie es manchmal ein bißchen leichter, an Quellen heranzukommen, schon allein wegen der Sprache. Vor allem bei Frauen findet sie schnell Vertrauen. Das hilft, denn bei aller Bereitschaft zu sprechen, ist der psychische Streß für die Opfer erheblich: „Die Flüchtlinge durchleben die schrecklichen Ereignisse praktisch noch einmal.“

Zum Beispiel Jela Princip, 71 Jahre alt. In der drückenden Enge der Familienunterkunft im Lager Ranjir Golodvor erzählt sie, wie sie und ihre Nachbarn aus dem Heimatdorf in Bosnien verjagt wurden. Wie Vieh seien sie zusammengetrieben worden. Dann habe man sie in einen Bus gepfercht und Richtung Kroatien abtransportiert. Einmal hätten die serbischen Wachen den Bus unterwegs anhalten lassen, weil sie eine kleine Schweineherde entdeckt hatten. Dem Hirten schnitten sie kurzerhand die Kehle durch, die Schweine trieben sie in den Bus. Keiner der gefangenen Kroaten habe gewagt, auch nur den Kopf zu drehen.

Die alte Frau weiß die Namen der Täter nicht, und auch sonst will oder kann niemand die Täter identifizieren. Für Jadranka Cigelj ist die Aussage damit wertlos. Trotzdem hört sie der alten Frau lange zu, um ihr wenigstens das Gefühl zu geben, sie sei nicht allein. Eine Busladung voller Zeugen, aber die Mörder kommen wahrscheinlich ungeschoren davon. Auf dem Weg zurück in ihr Büro, wo sie die gesammelten Aussagen des Tages auswerten will, erzählt die Anwältin, wie ihre Arbeit sie vor allem psychisch über Wasser hält. „Nach dem Krieg kommt vielleicht etwas Besseres“, sagt sie, „jetzt brauche ich nur ein Bett und etwas zu essen. Ich habe keine Zeit für andere Fragen.“

Was Jadranka Cigelj vergessen will, was sie antreibt bei ihrer Arbeit mit der Energie einer Besessenen, das sind ihre eigenen Erinnerungen. Sie ist selbst ein Opfer von Kriegsverbrechen. Im Sommer 1992 war sie im berüchtigten Konzentrationslager Omarska interniert. „In Omarska gab es nur wenig Frauen“, erzählt sie, „unsere Bewegungsfreiheit war vollständig eingeschränkt.“ Nachts wurden sie aus den Hütten herausgeholt und von Wächtern und deren zufällig vorbeigekommenen Freunden geschlagen, gefoltert und vergewaltigt. „In Omarska wäre der Tod eine Erlösung gewesen. Alles, was einem Gefangenen in so einer Situation angetan werden kann, besonders einem weiblichen Gefangenen, all das haben sie mir angetan.“ Ihre Hoffnung ist, daß durch das Kriegsverbrechertribunal die Täter und ihre Auftraggeber zur Verantwortung gezogen werden. Doch Jadranka Cigelj ahnt, daß die wirklich Verantwortlichen wieder einmal davonkommen werden. „Das Tribunal ist eine politische Kreatur, geschaffen von denen, die nichts unternommen haben, um die Ereignisse von vornherein zu verhindern.“ Zufrieden könne sie erst sein, wenn sie auch Serbiens Präsidenten Slobodan Milošević und den bosnischen Serbenführer Radovan Karadžić auf der Anklagebank sehe, „und ich hoffe, daß sie bald Gesellschaft bekommen von den Herren Owen, Vance, Stoltenberg und Butros Ghali, die immer und immer wieder versicherten, sie hätten eine Lösung, die dem Problem aber nie richtig auf den Grund gegangen sind.“

Chefankläger Goldstone in Den Haag mag solche Argumente nicht. Er findet es „unfair, diese Namen immer wieder zu nennen“. Der Jurist verlangt belegbare Fakten: „Solange wir keine ausreichenden Beweise haben, müssen wir diese Leute für unschuldig halten. Aber wenn wir die Beweise haben, werden wir sicherlich Anklage erheben.“

Für den sehr unwahrscheinlichen Fall, daß er tatsächlich juristisch wasserdichtes Material gegen Milošević und Karadžić in die Hände bekommen sollte, fügt er rechtschaffen hinzu: „Sind sie erst einmal angeklagt, sollte man auch nicht mehr mit ihnen verhandeln. Wenn man einen Frieden schließt mit Leuten, die Blut an den Händen haben, dann hat dieser Frieden keinen Bestand.“

Jadranka Cigelj im fernen Kroatien hat für das vage Versprechen des Chefanklägers nur ein müdes Lächeln übrig. „Der Sicherheitsrat wird es niemals zulassen, daß Goldstone diese Beweise in die Hände bekommt.“ Dabei hat selbst die UNO in einem Menschenrechtsbericht festgestellt, daß die „ethnischen Säuberungen [...] von oben geplant und koordiniert sein müssen“. Wenn die UNO wollte, da ist sich Cigelj sicher, dann könnte sie die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.

In Zagreb allein gibt es mehr als zwei Dutzend unabhängige Organisationen, die Material gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher zusammentragen. Nur ein paar Schritte von Frau Cigeljs Büro in der Altstadt von Zagreb ist das medizinische Zentrum für Menschenrechte. Hier werden nicht nur Zeugenaussagen gesammelt, hier werden die Opfer auch psychologisch betreut. Herz und Seele der Organisation ist der Psychologe Mladen Loncar, auch er hat die Kriegsverbrechen am eigenen Leib erlebt. Seine eigenen Erfahrungen sieht er als Garantie für die Betroffenen, daß er sie verstehen wird.

Mladen Loncar hat einen jugoslawischen Lebenslauf. Kroate aus Vukovar, lebte er vor dem Krieg im serbischen Novi Sad. Von dort wurde er in ein Lager verschleppt, gequält und gefoltert. Schon im Lager seien Mithäftlinge zu ihm gekommen, um sich ihm anzuvertrauen. „Die psychologische Hilfe für Opfer, die ich dort begann, setze ich nun in Zagreb fort.“ Auch er flüchtet sich jeden Tag aufs neue in die Arbeit, sie ist für ihn die Droge, die ihn vom Grübeln abhält.

Jeden Donnerstag betreut Mladen Loncar eine Gruppe psychisch, physisch und sexuell mißbrauchter Männer. Iwan, Nahim und die anderen Teinehmer sind Männer um die Fünfzig, Sechzig, in normalen Zeiten waren sie gute Bürger von nebenan. Sie zögern erst, aber wenn sie ihre Hemmungen abgelegt haben, sprudeln ihre furchtbaren Erinnerungen förmlich aus ihnen heraus.

In Iwans Kopf kehrt immer wieder das Massengrab zurück, das er auf serbischen Befehl ausheben mußte, voll mit kroatischen und muslimischen Leichen. „Einigen fehlte der Kopf, einigen waren die Genitalien mit Draht abgebunden, einigen waren die Augen ausgestochen.“ Er mußte die Leichen auf weiße Tücher legen, damit die Tschetniks sie fotografieren konnten. „Wahrscheinlich, um hinterher zu behaupten, die Toten seien Serben, denen Kroaten oder Bosnier das angetan hätten.“

Hussein beschreibt, wie er mit zwanzig Mann in einer Garage eingesperrt war. „Zwei Brüder knüpften sie auf und ließen sie acht Tage hängen. Immer, wenn wir wieder in die Garage getrieben wurden, waren uns die Beine im Weg. Sie pendelten ständig hin und her. Wir durften sie nicht abhängen. Wir mußten die Toten küssen.“

Die Aktenschränke im medizinischen Zentrum für Menschenrechte sind voll mit solchen Geschichten. Als zusätzliche Belege sind Fotos und Videoaufnahmen archiviert. Rund fünftausend Namen mutmaßlicher Kriegsverbrecher stehen auf der Liste, die Loncar anhand der Akten zusammengestellt hat.

Viel zu viele, das weiß auch Mladen Loncar. Chefankläger Goldstone dort oben in Holland wird sich wohl auf die paar Täter beschränken, die seiner Meinung nach das meiste Blut an den Händen haben. So wie das Tribunal personell ausgestattet ist, wird es kaum mehr als fünfzehn Fälle pro Jahr bewältigen.

Doch nach den Regeln der UNO darf niemand in Abwesenheit verurteilt werden. Wahrscheinlicher ist deshalb, daß Goldstone nicht die Schuldigsten anklagt, sondern eben diejenigen, die er zu fassen kriegt.

Mladen Loncar hat sowenig Illusionen wie Jadranka Cigelj, daß das Tribunal die wirklich großen Kriegsverbrecher bestrafen wird. Trotzdem sagt er beharrlich: „Für die Opfer ist es wichtig zu sehen, daß überhaupt Gerechtigkeit geschieht – und wenn es Jahrzehnte dauern sollte.“