Sterben, um Leben zu retten

Wladimir Tschernosenko mußte mit miserabler westlicher Technik den Tschernobyl-Brand löschen / Trotz seines nahen Todes bedauert er seinen Einsatz nicht  ■ Von Martin Kissel

Wladimir Tschernosenko wurde kurz nach der Atomkatastrophe von den sowjetischen Behörden nach Tschernobyl geschickt. Der Ingenieur, der auch ein Physik- und ein Medizinstudium absolviert hatte, sollte wissenschaftlichen Rat geben, wie der Brand des Reaktors zu stoppen sei. 1992 gaben ihm die Ärzte noch zweieinhalb Jahre zu leben. Doch seinen Einsatz hält er trotzdem für sinnvoll.

taz: Wer hat Ihnen die Nachricht von der Katastrophe überbracht?

Wladimir Tschernosenko: Das waren meine Freunde vom Institut für Kernforschung. Die haben ein Auto gemessen, das aus der Stadt Pripjat gekommen und verseucht war, und da wurden eben Messungen durchgeführt. Die offiziellen Informationen gab es erst nach einer Woche. Und das war für die Verhältnisse noch sehr kurz. Da gab es eine kurze Mitteilung, es wäre zu einem kleinen Störfall gekommen, und das war's.

Was war ihr Auftrag in Tschernobyl?

Zu Anfang hat man dort überhaupt keine Wissenschaftler in dieses Gebiet gelassen, das hat einige Wochen gedauert. Man hatte Spezialtruppen (des Militärs, d.A.) um dieses Gebiet angesammelt, und da durfte niemand rein und niemand raus. Und als der Zustand immer kritischer wurde, als der Reaktor brannte und als die Gefahr bestand, daß zwei oder gar drei weitere Blöcke explodieren könnten, da hat man sich an mich gewandt: „Machen Sie etwas, versuchen Sie, etwas zu retten!“

War Ihnen denn am Anfang eigentlich klar, was passiert ist?

Nein, das war zu dem Zeitpunkt noch alles geheim. Die Hauptfrage war zunächst, zu klären, was man jetzt noch machen kann, damit der Reaktor aufhört zu brennen. Denn ein brennender Reaktor heißt, es werden Millionen von Curie in die Umwelt freigesetzt, nicht nur in die unmittelbare Gegend, sondern das geht viel weiter, um die ganze Welt.

Wann hat das Ausland von der Sache erfahren? Und wann war zum erstenmal Hilfe aus dem Ausland in Sicht?

Das Ausland hatte ja nur zufällig von der Katastrophe erfahren, nachdem man eben in Schweden erhöhte Werte festgestellt hatte. Was allerdings die Hilfe aus dem Ausland betrifft, so ist das eine sehr delikate Frage. Denn es hat sich gezeigt, daß es kein Land der Welt gibt, Deutschland eingeschlossen, das irgendeinen Plan hatte, wie man vorgehen könnte. Wir haben Anfragen an alle Länder der Welt geschickt, die über entsprechende Technologie hätten verfügen können: England, Amerika, Japan, Deutschland. Konkret lautete unsere Anfrage: „Verfügen Sie über Technologie, die unter einer solch hohen Strahlungsbelastung arbeiten kann?“

Die Antwort war: „Ja, das haben wir, Sie können das für einige Millionen Dollar bei uns kaufen.“ Wir haben dann gesagt, das machen wir. Aus Karlsruhe bekamen wir dann drei Roboter.

Mit welcher Effizienz?

Null. Denn diese Roboter waren so konstruiert, daß sie nur unter sehr begrenzten Strahlungseinflüssen arbeiten konnten. Sie konnten einer maximalen Strahlung von 200 Röntgen pro Stunde ausgesetzt werden. Wir aber hatten 15.000 Röntgen pro Stunde.

Wie lange haben die Roboter aus Karlsruhe gearbeitet?

Zwischen 30 Sekunden und einer Minute.

Haben Sie für dieses Gerät bezahlt?

Natürlich. Es fällt mir zwar schwer, das zu sagen, aber es waren mindestens fünf Millionen Dollar, die da geflossen sind.

Obwohl man Ihnen zugesagt hat, diese Geräte könnten unter solch hoher Strahlung arbeiten?

Natürlich. Sonst hätten wir das doch gar nicht gemacht. Die Geräte wurden eingeflogen und per Hubschrauber an den Einsatzort gebracht.

Gibt es eine Rechnung oder einen Lieferschein?

Das lief alles unter Geheimhaltung, dazu kann ich nichts sagen.

Haben Sie danach mit deutschen Politikern über die Gefahren der Atomkraft gesprochen?

Also, wenn man mit Politikern einzeln unter vier Augen redet, dann sagen die ganz offen, daß sie Angst vor der Atomkraft haben. Aber ein Politiker hat mindestens zwei Gesichter. Eines für sich selbst und eines nach außen für die Gesellschaft.

Hat Ihnen gegenüber eine Politikerin oder ein Politiker – unter vier Augen – die Angst zum Ausdruck gebracht, daß Atomenergie unverantwortbar sei?

Aber natürlich!

Wer?

Die Präsidentin des Deutschen Bundestages, Rita Süssmuth, zum Beispiel. Hans-Dietrich Genscher, der Verteidigungsminister Rühe und einige andere.

Die alle haben sich Ihnen gegenüber geäußert, daß die Atomkraft nicht verantwortbar ist. Und wie haben sie diese Sorge zum Ausdruck gebracht?

Rita Süssmuth hat auf einem der Empfänge in Berlin ganz klar gesagt, daß sie Angst hat vor den möglichen Folgen eines Reaktorunfalls in Deutschland. Ich habe dann gesagt: „Vielleicht verstehen Sie das nicht im ganzen Umfang. Ich bin gerne bereit, im Deutschen Bundestag aufzutreten.“ Und da hat sie gesagt: „Wladimir, das ist eine sehr gute Idee, ich lade Dich in den Bundestag ein.“ Doch eine Einladung des Bundestags habe ich noch nicht bekommen.

Auch nicht von den eben Genannten, die sich so besorgt zeigten?

Nein. Nebenbei, der amerikanische Kongreß hat ja beschlossen, keine weiteren Reaktoren mehr zu bauen.

Was sagen Sie denn dazu, wenn Politiker heute erklären, Tschernobyl könne heute nicht überall sein?

Das ist eine sehr interessante Frage. Vor der Katastrophe in Tschernobyl war die Situation weltweit ungefähr gleich: Da haben die Politiker und die Vertreter der Atomindustrie gesagt, daß eine Katastrophe von diesem Ausmaß einfach nicht möglich sei – um die Leute zu beruhigen, und damit sie sich mit dieser Technik abfinden.

Und nach dem Ereignis in Tschernobyl hat man dann die Argumentation geändert. Da hat man dann eben gesagt, so etwas könne nur bei den dummen Russen passieren. Ich habe Unterlagen einer geheimen Sitzung der Internationalen Atomenergiebehörde, IAEA, in Wien, auf der der Leiter der Sicherheitsabteilung der IAEA in Wien, Professor Rosen, sagt: Selbst wenn es jedes Jahr zu einer Katastrophe wie in Tschernobyl käme, müsse man die Atomenergie weiterentwikkeln.

Wußten Sie, welcher Strahlung Sie ausgesetzt waren, als man Sie nach Tschernobyl geschickt hat?

Informationen darüber gelten nicht nur in unserem Land, sondern in jedem Land der Welt als Verschlußsache. Wir wußten, unter welchen Strahlenbedingungen wir arbeiteten, nachdem wir das gemessen haben. Ich habe es vergessen heute zu sagen, aber ich habe eine Seite eines Geheimberichtes, aus der hervorgeht, daß es damals um ein Strahlungsniveau von 1.000 bis 15.000 Röntgen pro Stunde ging. Jetzt können Sie selber rechnen: Um einen lebenden Organismus zu töten, reichen 500 Röntgen pro Stunde aus.

Haben Sie gewußt, daß Sie dort drin, in der heißen Zone, eventuell oder gar sicher der Tod erwartet?

Ja, das konnte ich mir schon ungefähr so vorstellen.

Sie sind nun sehr krank. Welche Krankheiten haben die Ärzte bei Ihnen diagnostiziert?

Eben diese Krankheiten, die man hat, wenn man großen Strahlungsdosen ausgesetzt ist: Es ist eine Vergiftung der Herz- und Kreislaufgefäße, des Magen- und Darmbereichs ...

Krebs?

Das ist der nächste Schritt, der kommt, ja.

Gibt es Heilungschancen?

(Tschernosenko zögert) Ich denke, jeder muß sich um sein eigenes Leben kümmern. Das hängt alles vom Gehirn ab.

Wie lange haben Ihnen die Ärzte noch zu leben gegeben?

1992 hieß es: zweieinhalb Jahre.

Wenn Sie abschließend resümieren: Sie wissen, warum Sie sterben werden. Wissen Sie auch, wofür?

(Tschernosenko zögert sehr lange) Ich würde es so sagen: Ich bedauere es nicht, daß ich das alles gemacht habe.

Wenn ich denke, daß ich die Möglichkeit habe, diese Informationen weiterzugeben und es auch schon teilweise getan habe, und es geht ja um das Leben von Millionen von Menschen, dann ist es das schon wert.